piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Unkalkulierbare

Die Ausstellung „Les mises en scène“ in Wien zeichnet das Werk des Konzeptualisten Edward Krasiński nach. Alles begann mit einem Problem und einem schier endlosen Telegrammstreifen

Eine Markierungsoffensive: In der Höhe von 1,30 Meter wandert blaues Klebeband durch die Welt

von SUSANNE ALTMANN

Tokio 1970: Der polnische Künstler Edward Krasiński soll an der Biennale in der japanischen Hauptstadt teilnehmen. Eine persönliche Anreise ist nicht möglich, darum schickt er seine Installation nebst Aufbauplan auf dem Seeweg. Dann die Hiobsbotschaft: Das Frachtschiff, das der staatliche polnische Kunsthandel Desa für den Transport erkoren hat, wird mit einem Monat Verspätung in Tokio eintreffen. Zu Hause in Warschau gerät Krasiński nur kurz in Panik, dann geht er auf die Post und sendet ein Telex. 5.000-mal tickert das Wort Blue über die Maschinen und quillt in Tokio als schier endloser Lochstreifen wieder hervor. Und der wird dann auf einem Podest ausgestellt, bis die restlichen Kunstwerke eintreffen – bezeichnenderweise Skulpturen mit langen blauen Schnüren. Der polnische Konzeptualismus war geboren. „Das war allerdings kein beabsichtigter Konzeptualismus, sondern eine Rettung der Situation“, betonte Krasiński bis an sein Lebensende 2004 und dass er, wie einst der Nationalheld Tadeusz Kosciuśzko, vor allem die Ehre Polens habe retten wollen.

Nun zeichnet in Wien eine Ausstellung das Werk dieses verschmitzten Ehrenretters und bedeutenden polnischen Konzeptualisten nach. Was 1970 in Tokio erst mit vierwöchiger Verspätung gelang, ist in der Generali Foundation eins zu eins zu betrachten – die Rekonstruktion des damaligen Krasiński-Raumes aus Stäben, Drähten sowie blauen Lesezeichen, die Buchobjekten entfließen. Ein wohlgeordnetes, minimalistisches Arrangement, das die Ausstellungsmacher aus Leihgaben akribisch wieder herstellten.

Überhaupt besteht die elegant mit „Les mises en scène“ (Die Inszenierungen) betitelte Schau fast ausschließlich aus nachgestellten Raumsituationen, die Krasiński zu seinen Lebzeiten selbst choreografierte. Am Anfang steht eine dramatisch-dunkle Szenerie, die sich Mitte der 1960er-Jahre so ähnlich in Tadeusz Kantors legendärer Galerie Krzysztofory in Krakau ereignete. Aus dieser Zeit und aus der produktiven Freundschaft zu dem grenzgängerischen Multitalent Kantor resultierte Krasińskis lebenslange Freude an bizarren Objekten, performativen Selbstdarstellungen und durchkomponierten Environments.

Zahlreiche Zeugnisse dieser frühen Jahre sind fotografisch festgehalten, wie etwa das Happening im Ostseebad Osieki 1967, als Krasiński auf Kantors Wunsch die Wellen des Meeres dirigierte. Im endlosen Heranrollen der Wogen fand Krasiński, der schon bald zu einer Schlüsselfigur der polnischen Avantgarde wurde, eines seiner Hauptthemen reflektiert: die Unendlichkeit. Auch in seinen Aktionen mit einer Kabeltrommel oder mit verwickelten Drähten benutzt er dieses Motiv; am bekanntesten davon ist wohl die Arbeit „J’ai perdu le fin“ (Ich habe das Ende verloren). Doch auch in „Dzida“ (1965, 1968 u. a.), dem Speer im Flug, zeigt sich eine gleichsam philosophische Betrachtung der Probleme von Ort und Zeit. In der Luft erstarrt, an dünnen Drähten baumelnd und in Fragmente zerlegt, erinnert „Dzida“ an das berühmte Bewegungsparadoxon des Zenon von Elea.

Dabei war es Krasiński nie um eine denkerische, spröde Metapose zu tun, wie sie der westliche Konzeptualismus seinerzeit gern vorführte. Der 1925 in Luck (Ukraine) geborene Pole ging vielmehr mit Humor, Selbstironie und surrealistischer Provokation zur Sache. „Les mises en scène“ würdigt diesen Aspekt ausreichend, auch mit einem lebensgroßen Schwarzweißkonterfei des betagten Künstlers. Was beim Eintritt in die Ausstellung zunächst wie die gewöhnungsbedürftige Volte einer erlebnisorientierten Gestaltung wirkt, klärt sich rasch. Sein werkimmanentes Selbstbild zwischen forschendem Buchhalter und Don Quichotte kultivierte und dokumentierte Krasiński schon früh, in Fotografien und Aktionen. Letztere nannte er gern lapidar „Geschehen“ – als wolle er damit das Unkalkulierbare seines Tun betonen.

Ab 1970 übernimmt dann jenes Element die Regie in Krasińskis konzeptuellen Theater, das bald und bis heute zu seinem Markenzeichen avancierte: blaues Klebeband. Was sich im Orbit des japanischen Lochstreifens andeutete, wurde zu einer groß angelegten Markierungsoffensive, die weder vor Bäumen im Wald noch vor lebenden Personen oder Pariser Galerien Halt machte. Auf der selbst verordneten Höhe von 1,30 Meter ließ Edzio, wie ihn seine Freunde nannten, den Streifen ruhig durch die Welt wandern.

Die unendliche Linie als Lebenswerk erinnert sicherlich an die autobiografisch-numerische Endlosreihe seines Landsmanns Roman Opalka. Noch größere Nähe gibt es freilich zum streifigen Schaffen seines Freundes Daniel Buren, der damals in Paris beim Bekleben der Galeriefenster des Rive Gauche assistierte. Und weil in der sozialistischen Volksrepublik Polen bis 1981, bis zur Einsetzung des Kriegsrechts, internationale Kontakte relativ problemlos waren, reisten Kollegen wie Buren, Annette Messager oder Lawrence Weiner gern nach Warschau.

Dort besuchten sie Krasiński in seinem Atelier, das er mit dem namhaften Konstruktivisten Henryk „Henio“ Stazewski teilte, und sie stellten in der winzigen, heute zu Recht zum Mythos verklärten Galerie Foksal aus. Der fünf mal sieben Meter kleine Raum war das Labor der polnischen Avantgardisten, die für diesen Ort programmatisch vergängliche Installationen schufen und ihre Regeln schon 1966 in einem Manifest dekretierten. „Les mises en scène“ rekonstruiert zwei Ausstellungen Krasińskis, die er für Foksal entwarf. Während 1984 der blaue Streifen aktuelle Wandobjekte mit fotografischen Zitaten aus dem Frühwerk zusammenschnürt, besteht das frühe Konzept von 1968 aus einem begehbaren Labyrinth von Sockeln, auf denen Skulpturen und Gummifäden eine surreale Landschaft bilden – ja, es darf durchaus an zeitgleiche Artefakte von Eva Hesse gedacht werden. Auf einigen Pedestalen ruhen etwas unvermittelt weiße Eier. Hier gelang es nicht, die einstigen Werke aufzutreiben. Derlei Platzhalter hätte Edward Krasiński auch selbst verwendet, versichern die Ausstellungsmacher und bedienen sich ganz nebenbei der Auferstehungssymbolik des Eis. Denn die instruktive wie unterhaltsame Revitalisierung eines grandiosen Lebenswerks ist mit „Les mises en scène“ geglückt.

bis 27. August, Generali Foundation Wien