: Rückzug und Angriff
WAHRHEITSSUCHE In „Last Call“ von Jörg W. Gronius sitzt ein Mann am Meer und schreibt Briefe
Die Entscheidung, einen Roman in Briefen zu erzählen, erlaubt, wie im Tagebuch, das eruptive, unmittelbare Reagieren auf Aktualitäten. Die Briefform aber distanziert vom affektiven Mitleiden am Romangeschehen. Der Autor Jörg W. Gronius korrespondiert deshalb in seinem Briefroman „Last Call“ direkt mit dem Intellekt der RezipientInnen
Sein Briefschreiber ist der erfolgreiche Komödienschreiber Bruno Wollmers, der sich zurückgezogen hat aus dem Theaterbetrieb, vielleicht auch aus der Welt. Die Briefe, in denen er über das Dasein reflektiert, schreibt er am Mittelmeer, aus Orten, die es nicht gibt.
Aus der Welt zwar, nicht aber aus der Zeit sind die Briefe. Der erste stammt vom 3. April 2009, der letzte vom 1. August 2011. So kann Bruno Wollmers auf Phänomene unserer gegenwärtigen Alltagsgesellschaft wie die Abwrackprämie blicken und sich wundern: „Es gibt sie noch, die deutschen Dinge.“ Aus seiner Perspektive erscheinen nun die Abwrackprämie und die Argumentation, die zu ihr geführt hat, lächerlich.
„Ich komme immer weiter weg von den Meinungen und immer näher an die Wahrheiten“, erkennt Bruno. In unserer globalisierten Welt sei die Zeit der Politik vorbei. Er entlarvt den Mainstream ohne Rücksicht auf die sogenannte Politcal Correctness. Er wettert gegen die Politik, gegen den amerikanischen Präsidenten und gegen Frau Merkel. Angewidert teilt er nach rechts wie nach links aus: „Zwei abgehalfterte Ex-Politiker gebärden sich als Kommunisten und Rächer der Enterbten. Sie wollen es von den Millionären nehmen und sind doch selbst welche.“ Er reflektiert Sprache und Sprachgebrauch: „Bezeichnend für das Deutsche ist auch die Negativität des Wortes ‚Abwracken‘“, das höre sich an wie „Endlösung“, „Blitzkrieg“ und „schlagartig“.
Satirisch beschreibt Bruno Kleider- und Denkmoden deutscher Touristen in Ländern, die durch die Eurokrise ausbluten. Ostern ist für diesen hochgebildeten Komödienschreiber Anlass, die mykenischen Mysterienfeiern (1500 v. Chr.) mit den christlichen zu assoziieren, womit die christliche Glaubensdarstellung als eine Frage der Zeit relativiert wird. Die philosophische Betrachtung der Gegenwart findet Ausdruck in ätzendem Sprachwitz: „Mögen die Kinder nicht Christi Schicksal erleiden, und sei es durch die Raserei des Kapitals oder nur die mit den Mopeds. – Das wünscht zu Ostern Dein alter Bruno und grüßt auch.“ Damit gleicht er immer wieder die Schwere der Erkenntnisse, seine Wut und Trauer aus.
Anlass und inneres Thema von „Last Call“ ist die Auseinandersetzung mit dem Tod des Vaters, mit dem für den Sohn eine lebenslange Demütigung endet. Eine Verletzung aber bleibt zurück – denn selbst am Totenbett war es zu keiner Aussprache gekommen, obwohl Bruno das dringend gewünscht hat. „Ein Gespräch von Mann zu Mann? Ein Gespräch, was alle Missverständnisse, Verletzungen und Demütigungen ausräumt, aufhebt. ‚Aufhebt‘ im Hegelschen Sinne: in eine neue Qualität überführt.“ Verstehen kann Bruno durchaus die kriegstraumatisierten Eltern. Sie aber, deren Geist klein geblieben war, hatten von der Existenz der Welt, in die der Sohn durch Studium kam, keine Vorstellung. „Mit dem Vater stirbt der Sohn“, heißt es an einer Stelle und an einer anderen: „Die Macht des Todes bedroht die Vertrautheit des Daseins der anderen.“
Im Angesicht des Meeres speit Bruno in seiner Weltverlassenheit Verzweiflung, Wut und Trauer aus. Die Lektüre dieses radikalen Sprachwerks aber ruft keine Verzweiflung hervor. Liebevoll ist der Blick auf die Menschen in seiner Nähe, von denen er erzählt. Gronius findet poetische, sinnliche Bilder, wenn Bruno sich mit dem Meer unterhält und dem Gesang der Musen lauscht oder wenn er mit Meno nachts auf dem Kutter sitzt, Rachmaninow hört und „Meteoriten dazwischen schießen wie bizarr tanzende Irrlichter“.
Seine sensible Wahrnehmungsfähigkeit setzt Bruno genauso präzise in sinnliche Sprache wie seine philosophischen Erkenntnisse in pointensichere Aphorismen. „Last Call“ ist ein Vergnügen für Geist und Sinne auf erlesenen Niveau: „Das Meer und das Wetter sind im Grunde eins. Sie bilden den Roman der Welt für all jene, die zu lesen verstehen.“ USCHI SCHMIDT-LENHARD
■ Jörg W. Gronius: „Last Call“. Ein Roman in Briefen. Conte, St. Ingbert 2013, 283 Seiten, 19,90 Euro