IN SACHEN RUHE UND BEDÄCHTIGKEIT IST DIE VERNUNFT DER FEIND, DENN DIE VERNUNFT IST DIE DES HANDELS UND DES KAPITALS
: An die See mit Thermoskanne und Käsebrot

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Am 8. Januar tritt in Schleswig-Holstein eine neue Bäderregelung in Kraft, die besagt, dass außerhalb der Saison die Geschäfte am Sonntag geschlossen bleiben müssen. Ins Rollen gekommen ist das durch eine Klage der katholischen / evangelischen Kirche, denen ja bekanntlich der Sonntag heilig ist, weswegen ihre Angestellten auch am Sonntag arbeiten gehen, zum Beispiel auf der Kanzel, aber für Gott und nicht für den Konsumenten.

Da ich weder Mitglied der einen wie der anderen Kirche oder Glaubensgemeinschaft bin, verbringe ich meinen Sonntag nicht in der Kirche, ich anerkenne aber, dass eine Kirche aus Menschen besteht und denen das Recht zusteht, irgendwas zu fordern, was ihnen bei der Ausübung ihrer Religion entgegenkommt. Ich anerkenne das übrigens für Angehörige aller Glaubensgemeinschaften, ob sie eingewandert oder hier geboren sind, das ist mir schnurzegal, denn ich glaube nicht, und das ist übrigens meine Art von Glauben, dass irgendeine Religion oder irgendein Mensch dem anderen über ist, auch wenn er meint, ältere Rechte zu haben. Die älteren Rechte der angestammten Religionen unseres Landes sind aufgrund heftiger Vergehen gegen die Menschheit meines Erachtens hinfällig geworden.

Aber davon mal ab, ich wandele gerne durch ein Seebad, in dem die Geschäfte geschlossen sind. Ich würde auch das Schließen der Tankstellen begrüßen und das Abschaffen des Verkehrs an wenigstens einem Tag der Woche. Wegen mir könnten auch die Restaurants und die Bäcker, die Kinos und Cafés schließen. Wenn wir Sonntags am Meer spazieren wollten, müssten wir dies alles vorher bedenken und uns eine Thermoskanne mit Tee und ein Käsebrot mitnehmen. Wir müssten am Sonntagnachmittag unsere Oma besuchen und ihren Kohleintopf essen. Wir könnten auch einfach im Bett bleiben und das Fenster aufmachen und den Wellen lauschen. Wenn wir in der Stille an den Schaufenstern einer Uferpromenade vorbeigingen, würden wir uns vielleicht unterhalten und – sieh mal einer an – wir würden die Verkäuferin treffen, die gar nicht arbeiten muss und stattdessen selbst spazieren gehen kann.

Ich weiß, ich romantisiere, und die Verkäuferin will möglicherweise ganz gerne am Sonntag arbeiten gehen, weil da all die Hamburger Schnösel mit ihrem BMW an die Küste fahren und bei ihr die Jacke und den Hut kaufen und vor allem, weil sie lieber am Sonntag arbeiten als arbeitslos sein will. So verfickt ist der Kapitalismus, dass er einen nie in Ruhe lassen kann. Arbeiten, vorwärtskommen, Geld verdienen, nur so rollt das Leben rund, nur so gibt es Waren und nur so kann ich mir eine Jacke kaufen und eine Unterhose und ein neues Buch. Bücher sind auch Waren und ich will, dass sie verkauft werden, damit ich leben kann, das ist ein Kreislauf und die Ruhe und der Sonntag sind antiquiert und störend und bringen uns nicht voran.

Darum bin ich ratlos, darum weiß ich nicht, wer Recht hat. Ich will nicht, dass die Kirche Recht hat, weil die Kirche nur an sich denkt und ihr der Frieden der Verkäuferin egal ist, denn die Verkäuferin hat gar keinen Frieden, wenn sie keine Arbeit mehr hat.

Mit Vernunft ist der Sache nicht beizukommen, weil die Vernunft die des Handels und des Kapitals ist. Die Ratio ist der Feind in Sachen Ruhe und Bedächtigkeit, auch wenn der Irrsinn von Geschäftigkeit und Lärm uns alle krank macht. Im Kreislauf von Einkauf und Verkauf spielt es keine Rolle, wenn wir krank werden. Wir verbrauchen uns und nutzen uns ab und selbst im Alter, und vor allem da und wenn wir krank sind, brauchen wir Waren, die uns das Leben erleichtern, im Heim, im Rollstuhl, im Pflegebett. Am Ende und als Krönung brauchen wir ein extra teures Möbel für die Erde. Das war es dann. Und wer hat Recht? Und wie kommt man da raus? Ich weiß es nicht. Ich hätte nur gern am Sonntag frei und hätte das darum auch für jeden Menschen auf diesem Planeten, der am Sonntag entbehrlich ist, zum Beispiel auch im Hutladen am Timmendorfer Strand.Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen