Ein Darling, der gern das Arschloch gab

ENTBLÖSSUNGSPOESIE Eine Droge namens Verzweiflung: Eine persönliche Erinnerung an ein Treffen mit dem kürzlich verstorbenen Hurenbock, nihilistischen Moralisten und Unterweltsdandy Sebastian Horsley

Es kommt nicht oft vor, dass einem ein wildfremder Engländer, der Zylinder und Cajal zum schwarzen Frack trägt und aussieht wie ein verarmter Zirkusdirektor, im ersten Gespräch nach zehn Minuten erzählt, dass er gerade aus dem Puff kommt. Sebastian Horsley hat das getan. Das war vor einem Jahr in Mainz, als er gerade seinen autobiografischen Roman „Dandy in der Unterwelt“ promotete (Blumenbar Verlag, 425 Seiten, 19,90 Euro).

Horsley gab gern das Arschloch. Zum Beispiel als Prostitutionsexperte im Fernsehen. Experte war Horsley, weil er sein Millionenerbe in Huren investiert hat, mehr als 1.000 sollen es gewesen sein. Zwischendurch hat er sich selbst prostituiert, als Vorzeigecallboy eines Escort-Service, man kannte ihn in England. Mit ruiniertem Ruf, Zylinder und viel Make-up im verlebten Forty-Something-Gesicht stolzierte er in eine Talkshow über Zwangsprostitution. Betroffene klagten ihr Leid, Horsley grinste. Er kenne keine Prostituierte, die zu ihrer Arbeit gezwungen wird. Die Runde heulte auf. Mission erfüllt: Horsley gab den gewissenlosen reichen Kerl, der noch nie im Leben gearbeitet hat, gezeichnet von Exzessen, als den man ihn gecastet hatte.

Horsley war nicht nur ausgewiesener Puffgänger, auch seine Hassliebe zu Crack und Heroin war boulevardbekannt. Die Talkshow sah ich zu spät, um das Interview mit dem Arschloch abzusagen. Man hätte es wissen können, aus „Dandy in der Unterwelt“, benannt nach einem autobiofiktionalem Wunschtraumsong seines Idols Marc Bolan – ein unterhaltsames Stück Entblößungspoesie mit hohem Klatschfaktor. Allerdings ließen die akribisch gelisteten Verstöße gegen die gängige Moral und die angebliche Diktatur der politischen Korrektheit vermuten, dass der Typ für ein bisschen Aufmerksamkeit auch seine Großmutter verkaufen würde. Horsleys Vater war ein steinreicher Trinker, spastisch gelähmt, desinteressiert an seinem Sohn. Auch die Mutter soff. Den ungeborenen Sebastian versuchte sie mit einer Pillenüberdosis abzutreiben.

„Um sich daran zu erinnern, immer noch lebendig zu sein, brauchte sie bisweilen ein Drama.“ So lautet der zweite Satz des Buchs. Er fällt uneingeschränkt auf seinen Erfinder zurück. Sebastian Horsley war eine Drama-Queen, queenie-queerer Sprechsingsang inklusive. Seine Verlagsfrau nannte er bei unserem Treffen Darling, auch mich nannte er bald Darling. Und ich war irgendwann versucht, den Darling zu erwidern. Inzwischen saß Sebastian zwei Stunden an meinem Tisch und belohnte jede Frage, die seine Intelligenz nicht beleidigte, mit einer kleinen Dosis weniger Pawlow. Der Stakkato-Monolog aus Dandy-Aphorismen – „Der Dandy oszilliert zwischen Narzissmus und Neurose, Eitelkeit und Irrsinn, Saville Row und Death Row“ – wurde allmählich zum Gespräch. Eine Rüstung aus Narzissmus habe er sich zugelegt nach dem Horror der Kindheit, „ein Schutz gegen die Verletzlichkeit, alle Dandys zerfallen am Ende“. Am Ende sagte er, ganz unter uns: „Eigentlich bin ich ein großer Moralist, nur ein Nihilist kann ein Moralist sein.“

Als der moralische Nihilist am 17. Juni starb, mit 47, daheim in Soho, war es an Heroin. Im Dandy-Buch schrieb Horsley ausgiebig über seine Drogengeschichten. Das High konnte er so schildern, dass man selbst Appetit bekommt. Reden tat er wie einer, der weiß, was auf ihn zukommt: „Leute nehmen Drogen, weil Drogen funktionieren. Wenn eine Droge schon Ecstasy heißt, dann ist das Programm. Gäbe es eine Droge, die Despair heißt, du nimmst sie, endest in der Gosse und begehst Selbstmord, nein, das funktioniert nicht. Wenn du zu viel Drogen nimmst, dann stirbst du halt. So what! Es ist nur der Tod, nicht das Ende der Welt.“

KLAUS WALTER