IN MOABIT : Die Mischung stimmt
In Moabit wird fleißig gebaut. Stadtentwicklung West. In Moabit scheint die Mischung zu stimmen, es gibt billige, aber gute Restaurants (eine Kombination, die in Berlin wirklich sehr selten anzutreffen ist), man kann gut draußen sitzen, es gibt kein Zuviel an irgendwas. Es gibt nicht zu viele Deutsche, zu viel Migration, zu viele Touristen, zu viele Arme oder Neureiche, nein, die Mischung scheint zu stimmen. Es ist ruhig in Moabit, und trotzdem was los. Es ist nicht weit nach Mitte. Nicht weit in den Tiergarten. Moabit sollte kommen. Vergesst Neukölln.
Hinter der Johanniskirche, sie gehört zu den vier Schinkel’schen Vorstadtkirchen, schreibt Wikipedia, beim evangelischen Abendmahl am Sonntagmorgen gibt es übrigens alkoholfreien Wein, befindet sich der Johanniskirchhof. Ein Biergarten mit Holzbänken und einem einleuchtenden Bewirtungssystem. Man sucht aus, zahlt, und bekommt eine Nummer in die Hand gedrückt. Wenn das Essen dann fertig ist, es gibt rustikale Küche deutscher Art, plus mediterrane Klassiker, wird die Nummer ausgerufen. Nein, ausgeschrien. Nein, es ist vielmehr so, dass der Marktschreier hier seinen Traum vom Fischmarkt in Hamburg oder dem Glückslosewagen auf der Großkirmes in Düsseldorf auslebt und seine Ausrufe regelrecht zelebriert. „Und wir haben hier ein Schnitzel mit Kartoffelsalat! Für die Nummer 77!“
Das Publikum rekrutiert sich im Wesentlichen aus der Nachbarschaft. Flotte Unterschichtlerinnen, altgewordene Berufsjugendliche mit Silberhaar und beflockter Lederjacke, dazu Wildlederschuhe und Freundin mit Dauerwelle. Der Typ hat sich einen Salat bestellt, ich weiß auch nicht, wieso. Vor ihm sitzen ein paar Angestellte mit gelockerten Krawatten in bürofreien Zeiten. Außerdem zwei, drei Intellektuelle. Aus der Turnhalle nebenan kommen Operngesänge. Die Mischung stimmt. RENÉ HAMANN