: Die Kraft der Entschleunigung
INDIEPOP In der Ruhe liegt die Kraft: Das New Yorker Quintett „The National“ hat mit seinem vierten Album „High Violet“ nun auch den kommerziellen Durchbruch geschafft
VON ROBERT MATTHIES
Eine eigentümlich lähmende Rastlosigkeit wird der Zeit zum Verhängnis. Das drängendste Phänomen der Gegenwart, wird der französische Kulturtheoretiker, Philosoph und Urbanist Paul Virilio nicht müde zu betonen, sei der „dromologische Stillstand“: die Verdichtung der Zeit und die Abschaffung des Raumes durch die Zunahme der Geschwindigkeiten. Die Datenflut zeitgenössischer globaler Kommunikation errichte allmählich eine Tyrannei allgegenwärtiger Telepräsenz, die uns aus dem „Schatten der Erde“ treten lasse. Die einzige Chance, den Menschen an seinen angestammten Platz, die „Berührungslinie zwischen Himmel und Erdoberfläche“, zurückzuführen, sei folglich die Entscheidung zur Entschleunigung: zur Wiederaneignung von Muße und Zeit.
Dass man mit dem Entschluss zur Langsamkeit und Geduld selbst in der schnelllebigen Popwelt am Ende weiter kommen kann, als all jene, die an einem vorbeipreschen, machen die fünf New Yorker von „The National“ deutlich. Deren Geschichte beginnt bezeichnenderweise mit dem Platzen der Dot-Com-Blase Ende der 1990er. Bis dahin hatten Sänger Matt Berninger und die beiden Geschwisterpaare Aaron und Bryce Dessner sowie Bryan und Scott Devendorf noch genug mit ihren Jobs zu tun. Als Band sah man sie nur an Wochenenden und auch für die Veröffentlichung des Debütalbums „The National“ auf dem eigenen Label Brassland Records haben sich die allesamt aus Cincinnati, Ohio stammenden Indierocker vor allem eines gelassen: Zeit.
Fünf Jahre später war davon im Verhältnis zum beständig langsam gewachsenen Erfolg und Anspruch aber nicht mehr genug vorhanden. Das Quintett kündigte endgültig alle seine Jobs und unterzeichnete für sein nunmehr drittes Album „Alligator“ einen Vertrag mit dem renommierten Indielabel Beggars Banquet.
Die 2005 mit viel Kritikerlob veröffentlichte Platte bringt den Durchbruch für die Brooklyner. Das subtil-verspielte und sehnsüchtig-melancholische Album verlangt vom Hörer zwar ebenso viel Zeit und Geduld, wie die Band investiert hat. Der Eindruck, den es hinterlässt, ist dafür umso bleibender. In etlichen Album-des-Jahres-Listen klettert „Alligator“ auf die obersten Plätze und beschert „The National“ schließlich etliche Festival-Auftritte und eine Tour mit den ebenfalls Brooklyner Indierockern „Clap Your Hands Say Yeah“ – als Headliner.
Der Nachfolger „Boxer“ mit Gastauftritten vom Singer/Songwriter und Multiinstrumentalisten Sufjan Stevens schließt 2007 nahtlos daran an: die Herzen der Kritiker schlagen noch einmal höher, „Boxer“ wird gar als Album des Jahres gehandelt.
Hektik ist deswegen bei „The National“ bis heute nicht ausgebrochen. Und so haben sich die Brooklyner auch für ihren neusten Streich „High Violet“ wieder drei Jahre Zeit gelassen. Der Erfolg gibt den Entschleunigungs-Rockern zum dritten Mal Recht, diesmal auch kommerziell: schon in der ersten Woche klettert das Album auf Platz drei der Billboard-Charts und auch in Deutschland steigt „High Violet“ auf Platz zehn ein – ohne jegliche Zugeständnisse an Zugänglichkeit. Stattdessen haben „The National“ ihren Klang behutsam weiterentwickelt: noch detailreicher instrumentiert, noch perfekter kalkuliert, noch subtiler variiert.
Eines aber haben „The National“ bei aller Geduld auch diesmal wieder nicht hinbekommen: trotz vollmundig erklärtem festen Willen zu mehr Leichtigkeit ist auch „High Violet“ alles andere als ein lichtes und fröhliches Album geworden. Aber ganz ohne Wehmut ist die Rückkehr zur Berührungslinie zwischen Himmel und Erde wohl auch nicht zu haben.
■ Do, 8. 7., 18.30 Uhr, Freilichtbühne im Stadtpark