Auf die Quote kommt es an
Steuersenkungen sollen deutsche Unternehmen wettbewerbsfähig machen? Anderswo liegt die finanzielle Belastung viel höher. Und dies könnte EU-weit harmonisiert werden
Deutsche Firmen zahlen nur 1,3 Prozent: viel weniger als diein Italien, Frankreich und GroßbritannienWir brauchen von den Unternehmen20 Milliarden mehr, nicht 8 Milliarden weniger
Es ist interessant zu beobachten, wer auch in einer großen Koalition ungeschoren wegkommt. Natürlich nicht die Arbeitslosen, wohl auch kaum die Bezieher magerer Einkommen, denen durch die drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer ein ordentlicher Kaufkraftverlust droht. Aber auch die Besserverdiener dürften, wenn die Pläne zur Gesundheitsreform so durchkommen, wie es sich abzeichnet, von finanziellen Opfern nicht verschont bleiben.
Nur eine Gruppe wird gehätschelt: die Unternehmen. Die Pläne zur neuen Unternehmensteuerreform sehen vor, den Sektor der Kapitalgesellschaften weiter zu „entlasten“. Schätzungen sprechen von jährlichen Einnahmeausfällen um die acht Milliarden Euro. Man darf schon jetzt gespannt sein, ob diese neue Lücke im Haushalt stärker von den bereits ins Visier genommenen Hartz-IV-Empfängern geschlossen werden soll. Oder ob doch vielleicht eher die Länder mehr bluten müssen.
Begründet wird die weitere Absenkung bei den Gewinnsteuern – wieder einmal – mit einer angeblich schlechteren Position Deutschlands gegenüber anderen europäischen Ländern. Das musste ja schon als Verteidigung bei der rot-grünen Senkungsmanie herhalten. Und wieder ist es falsch.
Denn Deutschland ist für Konzerne bereits ein Niedrigsteuerland. Hoch sind wir nur in den nominalen Steuersätzen, aber die zahlt eben kein Unternehmen, das sich einen halbwegs kompetenten Buchhalter leisten kann. Nominale Steuersätze in Deutschland als Beleg für die Steuerlast zu zitieren ist so aussagekräftig, wie von der Richtgeschwindigkeit auf der Autobahn auf das Verhalten auf der Überholspur zu schließen. Und man glaube doch nicht, dass hoch bezahlte Analysten über diese Differenz zwischen nominalen Steuersätzen und faktischen Steuerzahlungen nicht genau Bescheid wüssten. Sie sind vielleicht kurzsichtig und in ihrer Orientierung auf Shareholder sicher einseitig, aber garantiert nicht dumm.
Für ziemlich dumm dagegen werden wir verkauft. In Deutschland seien die Unternehmensteuern zu hoch? Der Trend zunehmender Globalisierung zwinge zum Absenken? Die OECD berechnet international vergleichbar die Einnahmen aus allen Gewinnsteuern von Kapitalgesellschaften als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Nur um Kapitalgesellschaften geht es dabei, da sonst die Steuerbelastung des Unternehmens und die der Eigentümer nicht sauber getrennt werden können. Kapitalgesellschaften – AGs, GmbHs usw. – sind aber die Elefanten im Wirtschaftsgeschehen.
Und hier hat Deutschland seit etlichen Jahren die Schlusslichtposition in der Europäischen Union inne. Im letztvorliegenden Jahr 2003 lag der Anteil aller Gewinnsteuern am BIP bei mickrigen 1,3 Prozent; in früheren Jahren war es ähnlich. So wenig nimmt niemand sonst ein. Die anderen Länder Europas müssen sich schon jetzt vor uns fürchten, nicht wir vor ihnen.
Und der angebliche Druck der Globalisierung in Richtung fallender Einnahmen ist so auch nicht wahr. Von 1965 bis 2003 nahm das Verhältnis der Gewinnsteuereinnahmen zum Sozialprodukt nicht etwa ab, sondern zu: für die EU im Durchschnitt von 1,9 auf 3,2 Prozent. Ein von interessierten Kreisen behaupteter internationaler Zwang zum Absenken buchstabiert sich wirklich anders.
Zwar haben viele Staaten in den letzten zwei Dekaden tatsächlich ihre nominalen Steuersätze gesenkt, aber im Gegenzug dafür die Bemessungsgrundlage verbreitert. Und das führte zu den in der Statistik sichtbaren Mehreinnahmen. Die große Ausnahme ist Deutschland. Hier ist es weiter möglich, über üppige Abschreibungs- und Rückstellungsmöglichkeiten Gewinne ganz legal dem Fiskus zu entziehen. Und dann erst die Chancen mit Auslandstöchtern. Es bedeutet wenig Problem, über Verrechnungspreise oder Lizenzgebühren Gewinne in Niedrigsteuerländern anfallen zu lassen, dort gering zu versteuern und dann hier gewinnsteuerfrei nach Deutschland zu transferieren, um sie den Aktionären auszuzahlen oder damit Konkurrenten aufzukaufen. Andere Länder sind da klüger und kassieren eine Differenz, wenn die ausländische Steuerzahlung geringer als zu Hause ausfällt.
Man mag einwenden – und auch dies wird von interessierter Seite aus gerne gestreut –, in Deutschland sei doch nur der Mittelstand entscheidend. Die paar Konzerne wie DaimlerChrysler oder Siemens zählten kaum. Wirklich? Auch hier hilft die OECD weiter. Wählen wir die anderen großen Länder der EU als mit der Situation in Deutschland am besten vergleichbar. In Chiracs Frankreich und (damals noch) Berlusconis Italien beträgt der Anteil der Wertschöpfung der Kapitalgesellschaften am Sozialprodukt etwa die Hälfte, in Blairs Großbritannien, dem Mutterland des Kapitalismus, etwa zwei Drittel. Deutschland liegt dazwischen.
Das sind alles recht ähnliche Quoten. Bei den Gewinnsteuereinnahmen aber sieht es dramatisch anders aus. Nur Deutschland zeigt diese mickrigen 1,3 Prozent. Der konservative Chirac dagegen holte sich an Einnahmen von den Kapitalgesellschaften 2,5 Prozent des BIP, der rechte Berlusconi sogar 2,9 und der sozialdemokratische Blair 2,8.
Was würde es in harten Euros bedeuten, wenn Deutschland den Schnitt dieser Länder erreichte? Das wären zwischen 20 und 30 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen, über die wir jetzt nicht verfügen. Und statt uns dem europäischen Standard anzupassen, will die große Koalition den Konzernen weitere acht Milliarden schenken. Das ist eine Katastrophe für Deutschland und Europa. Denn natürlich werden die Konzerne in den Nachbarländern ähnliche neue Vergünstigungen dort fordern.
Die große Koalition, die eigentlich von Teilinteressen recht unabhängig sein sollte, hätte deshalb eine ganz andere Aufgabe. Sie müsste diese Steuervermeidungslücken schließen und die Einnahmen damit erhöhen. Und sie müsste es weiter zu dem zentralen Projekt ihrer kommenden EU-Ratspräsidentenschaft machen, eine taugliche Politik gegen unsittliche Steuerkonkurrenz zu konzipieren. Dazu bräuchte sie nicht auf die kurzfristig sehr unwahrscheinliche Harmonisierung von Steuersätzen und Bemessungsgrundlagen zu setzen. Sie könnte auch für eine Ergebnisorientierung plädieren.
Wenn in allen Mitgliedstaaten für jede nach den Prinzipien der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ermittelte Gewinneinheit des Sektors der Kapitalgesellschaften ein einheitlicher Mindestanteil an Steuereinnahmen nachzuweisen wäre, bliebe es ganz den Staaten überlassen, wie sie dieses Ziel erreichten. Ähnlich wie bei den Kriterien des Stabilitätspakts könnte eine solche Vorschrift von der EU gut kontrolliert werden und bei einer etwaigen Zielverfehlung sogar mit eindeutigen und automatischen Strafen bewehrt sein. Länder ließen sich dann jedenfalls nicht mehr von Konzernen ausspielen, wie es heute offensichtlich zumindest in Berlin der Fall ist. GERD GRÖZINGER