„Der letzte Gottesdienst wird hart“

In Hannover verkauft die evangelische Kirche zum ersten Mal eine Kirche an eine jüdische Gemeinde. Auf Seiten der Kirche spricht man von einer Geste der Versöhnung. Die liberale jüdische Gemeinde sieht es praktisch: Wer wächst, braucht Platz. Den Kindergarten will man gemeinsam weiterführen

von Friederike Gräff

„Sprungschanze“ haben die Leute die Kirche genannt und manchmal auch „Seelenabschussrampe“. Das war in den 70er Jahren, als die Gustav-Adolf-Kirche in Hannover-Leinhausen mit ihrem abschüssigen Dach gerade geweiht worden war. Damals hätte niemand geglaubt, dass einmal eine jüdische Gemeinde dort einziehen würde. Die wenigen jüdischen Gemeinden, die es gab, brauchten keinen zusätzlichen Raum. Und die evangelischen Gemeinden hatten noch keine Leitlinien, wie sie vorzugehen hätten, wenn sie ihre Kirchen nicht länger halten könnten. Sie bauten ja noch neue.

Nun aber wird die Gustav-Adolf-Kirche für 350.000 Euro verkauft und zu einer Synagoge mit Gemeindezentrum umgebaut. Als Ingrid Wettberg, die Vorsteherin der liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover, einem Gast die Kirche und künftige Synagoge zeigen wollte, traf sie im Eingang eine Frau aus der Gustav-Adolf-Gemeinde. „Es muss schwer für Sie sein“, meinte Ingrid Wettberg zu ihr im Bedürfnis etwas Tröstliches zu sagen. Aber die Frau schien gar keinen Trost zu brauchen. „Wir gehen doch nach Hause“, sagte sie. Nach Hause zu der Mutterkirche, von der sie vor 35 Jahren aufbrachen, als all die Familien nach Leinhausen zogen, weil die Familienväter Arbeit im Ausbesserungswerk der Bahn gefunden hatten.

Auf den alten Fotos im Gemeindehaus sieht man die Frauen in der Gemeindeküche, sie tragen beim Abtrocknen Schürzen über ihren Kleidern und man sieht Jugendliche in kurzen Hosen und mit einer Gitarre neben dem Altar stehen. Aber inzwischen hat die Bahn ihr Werk deutlich verkleinert, in den Wohnungen leben längst nicht mehr nur Eisenbahner und die Familien, die es sich leisten können, ziehen mit ihren Kindern heraus ins Grüne. Seitdem schrumpft die Gemeinde. „Im Kern sind es aber noch die treuen Eisenbahner“, sagt Sigrid Lampe-Densky, die Pastorin der Gustav-Adolf Gemeinde.

Sigrid Lampe-Densky ist eine zarte Frau mit langen blonden Haaren und einem kleinen Goldkreuz um den Hals, die so sachlich über den Verkauf der Kirche spricht, dass man erst viel später merkt, dass es wohl auch eine erarbeitete Sachlichkeit ist. „Die Gemeinde ist traurig – und tapfer“, sagt sie. „Wir haben der Wahrheit früh ins Gesicht gesehen.“ Früher als andere Gemeinden, die ebenso schrumpfen, die ebenso mit geringeren Zuschüssen auskommen müssen, die auch nicht recht wissen, wie sie die Heizkosten für die schlecht isolierten Räume bestreiten sollen. Aber dass sie die Kirche verkaufen würden, das hat Sigrid Lampe-Densky erst einmal nicht angenommen. Die Gustav-Adolf Gemeinde fusionierte mit der Stamm-Gemeinde in Herrenhausen, aber das allein hat die finanziellen Fragen noch nicht gelöst. Also hoffte man, dass die Jugendkirche oder die Industriekirche, die beide Räume für ihre Gottesdienste suchten, zu ihnen kommen würden.

Aber die Jugendkirche wollte näher an der Innenstadt sein und die Industriekirche wollte sich in der Nähe des Arbeitsamtes ansiedeln. Sigrid Lampe-Densky und der Kirchenvorstand haben über andere Möglichkeiten nachgedacht: Sie wollten ein diakonisches Kaufhaus in ihrer Kirche einrichten, aber dazu waren die Räume zu klein. Es gab auch eine Anfrage des Alpenvereins, der fand, dass die hohen Wände gut geeignet wären fürs Klettern. „Ich finde, dass die Ziele des Alpenvereins nicht denen der Kirche widersprechen“, sagt Sigrid Lampe-Densky, doch der Alpenverein hatte nicht genügend Geld und so zerschlug sich die Sache.

Die Gustav-Adolf Kirche ist die erste Kirche, die in Hannover verkauft wird, aber bei weitem nicht die erste in Deutschland: Viele Kirchen stehen zum Verkauf, einige wurden sogar an Privatpersonen abgegeben. 2003 haben die Vereinigten Lutherischen Kirchen Deutschlands Leitlinien herausgegeben zur Frage: „Was ist zu bedenken, wenn eine Kirche nicht mehr als Kirche genutzt wird?“ Darin wird Luther mit den Sätzen zitiert: „Denn keine andere Ursache gibt es Kirchen zu bauen, als das die Christen mögen zusammenkommen. Und wo diese Ursache aufhört, sollte man dieselben Kirchen abbrechen, wie man es mit anderen Häusern tut, wenn sie nicht mehr nützlich sind.“

In den Leitlinien heißt es dazu, dass Luther vor allem Angst gehabt habe, dass den Kirchengebäuden als solchen magische Kraft zugesprochen würde. Aber das sei „nicht das vordringliche Problem“, steht in den Leitlinien. Das Problem sei vielmehr die Gefahr, dass nach der Zusammenlegung von Gemeinden „trotz heutiger Mobilität die wenigen dann auch noch wegblieben“.

Es geht in diesen Leitlinien um praktische Fragen wie Erbbaurechte und Kaufverträge, aber es geht auch und vor allem um das Symbolische: Darum, dass die Leute den äußeren Verfall der Gebäude als „Manifestation des inneres Verfalls der Kirche“ fehldeuteten und dass es deshalb in manchen Fällen richtig sei, die Gebäude abzureißen. Und es geht um die Frage, ob man eine Kirche an eine islamische Gemeinde verkaufen solle. In der Gustav-Adolf Kirche hat Sigrid Lampe-Densky gesagt: „Die Leute haben immer wieder gefragt, ob eine Moschee daraus würde“, und es war klar, dass die Leute nicht fragten, weil sie das für eine gute Möglichkeit hielten. Auch Sigrid Lampe-Densky sagt: „Das hätte das Landeskirchenamt wohl nicht bewilligt.“ In den Leitlinien wird davon abgeraten: „Angesichts des konkurrierenden Anspruchs mancher religiösen Gemeinschaften (z.B. des Islam) wird der Eindruck eines Rückzugs der Kirche noch erheblich verschärft.“

Über den Umgang mit dem Judentum steht nichts in den Leitlinien. Aber die Zufriedenheit darüber, dass eine jüdische Gemeinde die Kirche übernimmt, ist allgemein: „Das Christentum ist der Spross auf dem Baum des Judentums“, sagt der hannoversche Oberkirchenrat Klaus Grünwaldt und zitiert den Apostel Paulus. Und dann verweist er noch auf etwas, das „theologisch nicht ganz sauber zu fassen sei“: „Unsere Geschichte als Deutsche“. Auch Sigrid Lampe-Densky findet, dass dieser Verkauf eine symbolische Dimension habe: „In dem Land, wo die Shoah geschehen ist, ist die Umwandlung einer Kirche in eine Synagoge ein Signal zur Versöhnung.“

Für Ingrid Wettberg, die Vorsitzende der liberalen jüdischen Gemeinde in Hannover, ist das allerdings weniger wichtig. „Ich möchte die Symbolik da ganz rauslassen“, sagt sie. Sie denkt mehr an das Praktische. Als sie vor elf Jahren die Gemeinde mit begründete, gab es knapp 80 Mitglieder, heute sind es über 500. Erst haben sie sich im Haus der Jugend getroffen, dann bei den Freimaurern, jetzt ist es eine Etage im ersten Stock eines Bürogebäudes. „Aber ich kann so viele Vorhänge aufhängen wie ich will, es bleibt ein Bürogebäude“, sagt Wettberg, die einen goldenen Davidstern an einer kleinen Kette trägt. Die grünen Holzstühle hat sie von einer Restaurantauflösung, den Baldachin, unter dem die Paare getraut werden, hat sie selbst genäht. Dafür ist der Thora-Schrank extra angefertigt worden und neben den beiden geliehenen Thora-Rollen hat die Gemeinde jetzt auch eine eigene.

„Es ist unsere Verpflichtung, nach vorne zu schauen“, sagt Ingrid Wettberg und in gewisser Weise bleibt ihr auch nichts anderes übrig. Viele der Gemeindemitglieder sind neu aus Osteuropa hinzugekommen und wissen wenig über das Judentum. Sie wissen auch wenig über deutsche Behörden, über die Anmeldung beim Stromwerk und das Arbeitsamt. „Sie sollen sich auch sozial hier wohl fühlen“, sagt Ingrid Wettberg und deshalb gibt es neben dem Hebräisch-Unterricht auch einen Schachclub und einen für Gymnastik. Die Gemeinde veranstaltet jährlich einen Bazar, für den auch der nicht-jüdische Freundeskreis strickt und backt und an den Wänden hängen Fotos von der ersten jüdischen Hochzeit unter Frau Wettbergs Baldachin und den Bar-Mizwah-Feiern, die in der liberalen Gemeinde, wie sie betont, auch für die Mädchen gefeiert werden. Es sind fröhliche Fotos und sie vermitteln nichts davon, dass die Fenster mit kugelsicherer Folie gesichert sind, dass selbst am Thoraschrank Notknöpfe zur Polizei angebracht wurden und dass die Beamten darum bitten, die Konzerte in der Gemeinde nicht öffentlich anzukündigen, sondern lieber im Nachhinein eine Besprechung zu drucken.

In das Gemeindehaus der Gustav-Adolf-Gemeinde wird die jüdische Gemeinde eine Sicherheitsschleuse einbauen müssen. Ingrid Wettberg ist froh, dass es keinen Turm gibt wie bei einer anderen Kirche, die sie vor Jahren besichtigte. „Was soll ich damit tun?“, hatte sie damals gefragt und die Kirchenleute antworteten: „Sprengen sie ihn doch.“ „Die Schlagzeile in der Bild-Zeitung kann ich mir vorstellen“, sagte Ingrid Wettberg.

Den Kontakt zur Gustav-Adolf-Gemeinde hat der Landeskirchenverband hergestellt. Sigrid Lampe-Densky hat erst einmal eine Partnerschaft vorgeschlagen, aber für die jüdische liberale Gemeinde war klar, dass sie den gesamten Raum von Kirche und Gemeinde bräuchten. Die Pfarrerin habe, so erzählt es Ingrid Wettberg, gesagt, dass die Gemeinde erst einmal drei Monate darüber nachdenken müsste, aber dann habe sie sich schon nach acht Wochen wieder gemeldet und gefragt, ob sie auch etwas vom Mobiliar haben wollten. „Für die evangelische Gemeinde ist das sicher ein schmerzhafter Prozess“, sagt sie. „Schließlich haben sie dort ihre Kinder getauft, haben sich dort trauen lassen.“

Seitdem bekannt wurde, dass sie Gemeinde die Kirche aufgibt, hat der „Schnäppchenmarkt“ begonnen, so nennt es die Sigrid Lampe-Densky. Das große Kreuz, das erst vor ein paar Jahren an der Außenfassade angebracht wurde, will die katholische Nachbargemeinde in ihren Hof stellen, die Stühle möchte eine Nachbargemeinde haben. Aber die Glocken kann die Gemeinde mitnehmen, das hat ihr ein Glockensachverständiger vorgeschlagen. Sigrid Lampe-Densky belebt sich, als sie von dem Geläut erzählt, dass die Bronzeglocken aus der Gustav-Adolf-Kirche mit denen im Glockentum der Kirche in Herrenhausen ertönen lassen wird.

Die Pfarrerin zeigt noch einmal die Kirche mit dem Nebenraum, wo ein Kalender „Christen bei der Bahn“ hängt und den Kirchenraum mit den roten Bänken und den Altarbildern aus Chile, auf denen die sechs Werke der Barmherzigkeit abgebildet sind. Sie setzt sich auf die erste Bank, wo sie immer sitzt, wenn die Gemeinde singt, und sagt: „Der letzte Gottesdienst wird noch einmal hart werden.“ Dann steht sie schnell auf.

Was bleibt, ist der Kindergarten der Gemeinde. Die evangelische und die jüdische liberale Gemeinde wollen ihn künftig gemeinsam führen. „Ich weiß nur nicht, wie die muslimischen Eltern darauf reagieren“, sagt Ingrid Wettberg. Sie hat auch dem Seniorenclub angeboten, sich weiterhin in den alten Räumen zu treffen. Doch die alten Leute wollen weiterhin ihr Grillfest feiern und das verträgt sich nicht mit den Vorschriften der koscheren Küche. Jetzt werden sie wohl zur katholischen Gemeinde quer über die Straße gehen. Sigrid Lampe-Densky sagt, dass sich das möglicherweise mit dem Kreuz verrechnen ließe, das sie bekommen sollen.