„Klinsmann ist Anarchist“

Daniel Cohn-Bendit hält den Südamerikanern ihr ängstliches Verwaltungsbeamtentum vor. Deutsche und Franzosen dagegen haben das anarchistische Moment erfolgreich eingebaut

taz: Herr Cohn-Bendit, freuen Sie sich schon auf das Finale?

Daniel Cohn-Bendit: Deutschland gegen Frankreich im Finale wäre witzig. Aber auch Portugal und Italien können diese Europameisterschaft gewinnen.

Warum ist die WM eine Europameisterschaft geworden?

Die Afrikaner sind von ihrem Potenzial weiter, als sie es in ihrer Spielorganisation und ihrer Ausgeglichenheit als Mannschaft sind. Und die Südamerikaner, sprich Argentinien und Brasilien, haben sich selbst geschlagen.

Inwiefern?

Im entscheidenden Augenblick haben sie nicht an ihre Stärke geglaubt, sondern das Spiel nur noch verwaltet. Die Argentinier haben gegen die Deutschen geglaubt, sie wären die südamerikanische Variante des italienischen Catenaccio. Sie haben Juan Riquelme ausgewechselt, sie haben Messi nicht eingewechselt. Da hat Trainer José Pekerman einfach versagt. Er hatte Angst.

Dieses Verwalten des Ergebnisses und damit des Spiels ist doch eigentlich eine deutsche Tugend gewesen?

Das war auch bei den Brasilianern kurios. Sie haben immer mit den alten Leuten wie Cafu angefangen – also ängstlich. Und die brillanten Alternativen blieben auf der Bank. Brasilien dachte wohl, sie würden Frankreich in der 70. Minute durch einen Freistoß von Juninho schlagen. Das war die These von Trainer Alberto Parreira. Und erst spät hat er Robinho und Cicinho eingewechselt. Weder Argentinien noch Brasilien war in der Lage, ihr Potenzial zu mobilisieren.

Und die Deutschen und die Franzosen haben mobilisiert.

Die Südamerikaner hätten das auch gekonnt, wenn sie sich während des Turniers aufgrund der Entwicklung erneuert hätten. Aber dazu waren sie nicht bereit.

Es geht also um die Flexibilität als Erfolgsversprechen.

Deutschland und Frankreich haben nie gezweifelt. Das war das Entscheidende. Ein Fußballspiel wird gewonnen, wenn man es schafft, die gegnerische Mannschaft zum Zweifeln zu bringen.Wenn ein Mannschaft zweifelt, dann baut sie ab. Schon vor dem Ausgleich hatte Argentinien den Virus des Zweifelns in ihrem Spiel. Die Franzosen haben durch ihre Spielorganisation die Brasilianer schon nach 20 Minuten zum Zweifeln gebracht.

Ich zweifle, also verliere ich.

Genau. Das beste Beispiel ist die auch physische Steigerung von Patrik Vieira. Gegen die Schweiz: ängstlich und hilflos. Gegen Spanien und Brasilien: das genaue Gegenteil. Fitness bedingt, dass ein Spieler nicht zweifelt.

Ist es das kollektivistische Moment, das Frankreich und Deutschland weiter gebracht hat als die Einzelkönner-Teams wie Argentinien und Brasilien?

Frankreich hat die berühmte Achse. Thuram und Gallas. Vieira und Makele. Dann Zidane. Vorne Henry. Und das Blutdoping, das man nicht nur bei der Tour de France ab einem gewissen Alter braucht, das ist Frank Ribéry bekommen. Das ist das junge, verrückte, anarchistische Moment. Das haben die Franzosen gebraucht – und in diesem Turnier hat es sich jetzt freigesetzt.

Was ist das anarchistische Moment bei den Deutschen?

Na ja, wenn Klose und Podolski anfangen wirklich zu spielen. Dann sind sie unberechenbar. Nur: Gegen Argentinien waren sie nicht da auf dem Platz. Wer eigentlich immer anarchistisch ist, das ist Klinsmann. Er hat ideal ausgewechselt. Alle müssten wegen der Aufstellung von Odonkor auf die Knie vor Klinsmann. Klinsmann – das ist Anarchie. Sich etwas auszudenken für die letzte halbe Stunde, wenn die anderen müde sind, dann brauch ich diesen Überraschungseffekt. Und das ist Odonkor. Im Guten wie im Bösen – es kann gegen Italien auch nicht mehr klappen.

Wenn das die Leistung Klinsmanns ist, was hat denn Domenech bisher beigetragen?

Schwierig. Das 4-5-1-System wurde ihm ja aufgezwungen. Zidane wollte nicht links spielen, deshalb war ein 4-4-2-System nicht möglich. Zidane hat auch gesagt: Wenn ich zurückkommen soll, dann nur, wenn Thuram und Makelele auch wieder spielen. Man hat Domenech diese Spielordnung aufgezwungen.

Ist er der Anti-Typ zu Klinsmann? Der hat dem deutschen Verband seine Spielweise aufgezwungen.

Ja, absolut. Obwohl er sehr sympathisch ist. Es gibt ja außer Pekerman keinen intellektuellen Trainer. Domenech ist Kind von spanischen Anarchisten, die nach der Niederlage der spanischen Republik gegen Franco 1936 nach Frankreich geflohen sind. Ein Sturkopf. Sein Verdienst ist es, dass die französische Mannschaft nicht zweifelt.

Sie hatten zuletzt behauptet, Klinsmann habe mehr erreicht als die rot-grüne Regierung in sieben Jahren. Was hat denn Domenech erreicht?

Mehr als Jacques Chirac. Domenech hat den Verfall Frankreichs verhindert. Chirac nicht.INTERVIEW: THILO KNOTT

DANIEL COHN-BENDIT, EU-Spitzenpolitiker, gehört zum wm-taz-Analyseteam.