Entdeckerfreude an winzigen Details

PROVINZ Ethnografie des polnischen Inlands: Ein Sammelband mit frühen Reportagen des großen Reporters Ryszard Kapuscinski

Ryszard Kapuscinski wurde bekanntlich als Auslandsreporter weltberühmt. Zunächst aber hatte der 2007 verstorbene polnische Journalist Inlandsreportagen geschrieben, die den „Geist des Wiederaufbaus“ der späten 50er Jahre in Polen einfingen. Dieses Frühwerk ist bislang fast vergessen. Unter dem Titel „Ein Paradies für Ethnographen“ erschien nun immerhin eine Auswahl auf Deutsch.

Kapuscinski setzt schon in diesen frühen Texten als Autor ganz unten an, bei den kleinen Dingen des Alltags. „Auf den Spuren von Leserbriefen“ zog er, nach eigenen Worten, ins polnische Hinterland. Die Absender beklagten sich darüber, „dass ihnen der Staat die letzte Kuh weggenommen hatte oder dass es in ihrem Dorf immer noch kein elektrisches Licht gab“. Kapuscinski trifft den Fährmann, den Schankwirt, den Kolchosbauer. Aus den Zeilen spricht Entdeckerfreude an winzigen Details. Die bildgewaltige Sprache vermittelt eine Stimmung von Urtümlichkeit und von wilder Natur, die sich das kriegsverwüstete Land zurückerobert. Erdig, rau ist diese Landschaft, vor der Kapuscinski die Dorfbevölkerung porträtiert, wie sie in rußgeschwärzten Stuben zusammensitzt oder den kargen Acker bearbeitet.

Gelegentlich wirken die Szenen aber auch wie eingefrorene Standbilder. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Oder besser, sie nimmt ihren eigenen Lauf. Der Journalist beschreibt eine Welt, in die das Zeitgeschehen nur von der Ferne und als bedrohliches Mysterium einsickert. Die nostalgische Verklärung der Provinz ist teilweise sogar etwas dick aufgetragen. Der Flößer wird zur schwülstigen Metapher der Unabhängigkeit vom Zeitgeschehen. Dazwischen stehen aber immer wieder beeindruckende Schilderungen: Bergarbeiter tragen einen verunglückten Kumpel zu Grabe, „zerdrückt von Kohleklumpen“. Die letzten 15 Kilometer zum Friedhof müssen sie ihn schultern, denn der Wagen bleibt auf der Straße liegen.

Das Buch bietet unverzichtbare Materialfunde für Kapuscinski-Liebhaber. In diesen frühen Reportagen gibt Kapuscinski einen Vorgeschmack auf seinen ungemein künstlerisch journalistischen Stil – aber die gesellschaftskritische Ebene, später fein und hintergründig, fiel hier noch holzschnittartig aus. In erster Linie richtet sie sich gegen den blinden Fortschrittsoptimismus und die Mode der Städte. Die Dorfmädchen wollen nach Warschau, weil es dort „eine Menge Kinos gibt“; von Warschau wiederum schwappt nur eine Welle sinnloser Innovationen in die Provinz über, von Nylonkrawatten bis zu Schlafsofas.

Die Gesellschaft im kommunistischen Polen wirkt bei Kapuciski insgesamt orientierungslos. Spannend sind die Reportagen aber als ein Sittenbild der provinziellen Nachkriegsgesellschaft in Mitteleuropa, die von der Politik kaum berührt bleibt.

ISABEL METZGER

Ryszard Kapuscinski: „Ein Paradies für Ethnographen“. Aus dem Polnischen von Martin Pollack und Renate Schmidgall. Eichborn, Frankfurt a. M. 2010, 173 Seiten, 16,95 Euro