: Der Rasenspringer
FUSSBALL Jörg Pochert sammelt Stadionbesuche: Bis zu sechs Spiele pro Tag sind drin – in verschiedenen Arenen. Als „Groundhopper“ gehört Pochert zu den erfolgreichsten Berlins. Nun hat er ein Buch darüber geschrieben
JÖRG POCHERT
VON JENS UTHOFF
Mit dem Licht in der Ferne beginnt das Kribbeln. Wenn Jörg Pochert sich Schritt für Schritt dem Stadion nähert, es dunkel ist und er auf das Flutlicht zusteuert, ist dieser Augenblick, in dem es zum ersten Mal aufleuchtet, ein besonderer: „Das ist halt so ein Kindheitsmoment“, sagt er. „Dann weiß man: Gleicht passiert’s, gleich geht’s los.“ An Faszination hat der Weg zum Fußballspiel für ihn nichts verloren.
Jörg Pochert kennt diese Schritte hin zum Stadion gut. Für ihn ist der Besuch von Fußballspielen fast zum Grundbedürfnis geworden, Stadien sind seine liebsten Sehenswürdigkeiten: „Jedes Stadion hat was eigenes Schönes“, sagt er. Pochert macht das zwar auch zum Spaß, darunter mischt sich aber ein ganz eigener sportlicher Ehrgeiz. Er hat mal 246 Spiele innerhalb eines Jahres gesehen. Er steht bei vier bis sechs Spielen an einem einzigen Tag auf der Tribüne. Pochert ist Sammler. Er sammelt Stadionbesuche.
Affinität zum Archiv
Dass Fußballfans eine Affinität zum Archivieren und Sammeln haben, mag einigen im Zusammenhang mit den legendären Panini-Stickern aufgegangen sein. Das Sammeln von Stadionbesuchen wurde aber erst in jüngerer Zeit populär. Groundhopping nennt sich das Phänomen (von engl. ground = Spielfeld und to hop = hüpfen), bei dem Fußballfans versuchen, so viele verschiedene Stadien wie möglich aufzusuchen.
Wie die heutige Form des Fußballspiels, so kommt auch die Idee des Groundhoppings aus England. Dort hat Mitte der 70er ein Fan namens Geoff Rose den 92er-Club gegründet – in den wurde jene exklusive Anhängerschaft aufgenommen, die bereits in allen 92 Stadien der ersten vier englischen Ligen bei einem Spiel zugegen war.
Pochert ist einer von Berlins erfolgreichsten Groundhoppern. In 50 verschiedenen Ländern hat er mehr als 700 Grounds gemacht. ‚Grounds machen‘, das ist der Slang der Szene. Es bedeutet, eine Begegnung in einer bisher noch nicht besuchten Spielstätte zu sehen, also ein weiteres Stadion zu sammeln. Pochert zieht es dabei heute eher in andere Länder wie die Türkei, Portugal oder in den Iran, um Reisen und die Sammelei zu verbinden – und um Länderpunkte zu sammeln, die es für jeden Stadionbesuch in einem weiteren Land gibt. Pochert hat die Berichte seiner Fußballreisen nach Südeuropa nun in dem Buch „Ayia Napa!“ veröffentlicht, benannt nach einem zypriotischen Ort, aus dessen Namen der Autor einen Trinkspruch kreierte.
In Berlin hat er mehr als 60 verschiedene Stadien besucht. Der in Friedrichshain lebende Groundhopper ist TeBe-Fan – im Mommsenstadion im Charlottenburger Ortsteil Westend fühlt er sich heimisch. „Bei TeBe finde ich Fußballgucken immer sehr entspannt, es gibt keine Faschos und keine Hools“, sagt er bei einem Treffen in einer Kneipe in Mitte. Der 37-Jährige – schmale Hornbrille, dicker Ohrring, Koteletten – überlegt, welches wohl die schönsten Stadien Berlins seien. Das Preußenstadion in Lankwitz etwa, das sei doch toll. Und das Hans-Zoschke-Stadion, in dem Lichtenberg 47 spielt. Oder das unter Denkmalschutz stehende BVG-Stadion, ebenfalls in Lichtenberg. „Ich hab irgendwie ein Faible für alte Bruchbuden“, sagt er, und so gefalle ihm etwa die baufällige alte Tribüne der 1922 für den Betriebssport der Straßenbahner eröffneten Spielstätte.
Pochert will nicht unbedingt den bestmöglichen Fußball in den modernsten Stadien sehen – lieber schaut er sich einen bezahlbaren Kick in einem schicken, urtümlichen Stadion an. Zum Profifußball geht er kaum mehr: „Mich interessieren die Ligen, in denen der Fußball noch nicht ganz so durchkommerzialisiert ist. In der Türkei findet sich etwa oft noch eine sehr ursprüngliche, lautstarke Atmosphäre.“
Dabei hat er durchaus ein architektonisches Interesse an den Bauten: „Für mich als Groundhopper ist es schön, wenn nicht alle Stadien gleich aussehen.“ In England beobachte er Tendenzen, dass die Stadien sich ähnelten, auch in Deutschland gäbe es Multifunktionsarenen, die sich glichen. Was zeichnet denn für ihn noch ein wirklich tolles Stadion aus? „Mir gefällt es, wenn die Stadien mitten in den Vierteln liegen. Dann sieht man, dass die Vereine in ihren Kiezen verwurzelt sind.“ Wie das alte Highbury in London, ergänzt er.
Seit Mitte der 90er zieht er nun schon sammelnd durch die Stadien. Das Schönes-Wochenend-Ticket war schuld, damit fing für ihn die Fußballtingelei an – zunächst mit Freunden, heute auch alleine.
Groundhopping ist in Deutschland auch erst seit Beginn der 90er Jahre verbreiteter. Gut zwanzig Jahre später gibt es eine große Szene, gar eine Vereinigung der Groundhopper Deutschlands und seit mehr als zehn Jahren bereits einen jährlich veröffentlichten Groundhopping Informer mit Tipps zu Fußballreisen. Dazu gibt es zahlreiche Blogs – und für Berlin seit kurzem eine Stadion-Karte (siehe Kasten). Es ist eine männlich dominierte Szene, die Anzahl der groundhoppenden Frauen nimmt allerdings zu.
Auch Fanzines zum Thema sind keine Seltenheit, dieses Medium ist unter Fußballfans sogar noch recht verbreitet. Pochert selbst gibt ein solches in Heimarbeit erstelltes Magazin heraus. „Edelstahl“ heißt es, es erscheint in unregelmäßigen Abständen. Etwa 200 Stück pro Ausgabe bringt er in der Groundhopper-Szene unters Volk. 27 Ausgaben gibt es bereits. Wie das nun erschienene Buch auch enthält es Tourberichte und Fotostrecken. Der Titel ist in Anlehnung an den Klub Stahl Brandenburg entstanden, der Heimatverein des in Brandenburg/Havel aufgewachsenen Autors – erst war es ein Fanzine rund um Stahl Brandenburg, mittlerweile ist es ein Groundhopper-Heft.
Wenn Pochert dann etwa nach Istanbul reist, muss man sich das so vorstellen: Morgens 7. Liga, nachmittags 6. Liga und abends SüperLig, also erste Liga. Kein Wunder, dass der Jahresurlaub Pocherts, der im Kundenservice bei einem großen Internet-Unternehmen arbeitet, zum Großteil für Fußball drauf geht. Ein Hobby für Reiche sei Groundhopping aber mitnichten: „Wenn man auf dafür auf andere Sachen verzichtet, muss man kein Großverdiener sein.“
So hüpft er weiter von Stadion zu Stadion, von Amateurspiel zu Amateurspiel. Langweilig wird ihm nicht: „Die Stadien sind Spiegel der Gesellschaft“, sagt er. Und die Fanszenen seien auch von Land zu Land unterschiedlich. In Tschechien etwa, wo er häufiger hinfahre, sehe es auf der Tribüne aus wie im 80er-Jahre-Freilichtmuseum: „Männer in Jesuslatschen und mit Vokuhilas, wunderbar.“
Aber ist der Fußball, der gerade in unteren Ligen gespielt wird, auf Dauer zu ertragen? „Ach, es gibt oft richtig schöne Slapstick-Szenen in den Spielen, und es fallen jede Menge Tore. Was will man mehr?“ Gut, leuchtendes Flutlicht vielleicht. Mehr aber kann sich ein Groundhopper beim besten Willen nicht wünschen.
■ Stadtplan: Fußball in Berlin/Football in Berlin. Faltplan mit allen wichtigen Stadien, Fußballkneipen und der Fußballroute Berlin (bisher eröffnetes Teilstück). Verlag Sports One More (2013). Zu beziehen über: info@groundhopping-berlin.de, 4,95 Euro
■ Pochert, Jörg: „Ayia Napa! Fußballreisen nach Südeuropa“. nofb-shop.de, 256 Seiten, 11,90 Euro
■ Groundhopping-Vereinigung: europlan-online.de