: Abtasten der Arsenale
CHINESISCHES KINO In „A Touch of Sin“ erzählt Jia Zhang-ke von einer ambivalenten und gewalttätigen sozialen Gegenwart
VON LUKAS FOERSTER
Der Minenarbeiter Dahai ist ziemlich angefressen: Während seine alten Kumpels zur Zeit der kapitalistischen Wende in China den großen Reibach gemacht haben durch zumeist krumme Geschäfte, ist er selbst leer ausgegangen. Mit den neuen, unbarmherzigen Gegebenheiten ist er nicht einverstanden – und macht das jedem ausführlich klar, der nicht bei drei auf den Bäumen ist.
Schon an dieser Figur zeigt sich das Talent des chinesischen Regisseurs Jia Zhang-ke, mit Hilfe des Kinos Ambivalenzen in die soziale Gegenwart einzutragen: Denn einerseits ist Dahais Wut auf neureiche Abzocker und korrupte Funktionäre verständlich und gerechtfertigt; andererseits aber ist er selbst ein reichlich unerträglicher, selbstgerechter Typ, dem persönliche Eitelkeit allemal wichtiger ist als politische Analyse und der am Ende aus der Situation um ihn herum die falschen Schlüsse zieht.
Weil er sich nicht nur in diesem Fall einfachen Antworten verweigert, weil in seinen Filmen das Individuum immer ein wenig quer steht zu den „Problemen der Zeit“, ist Jia Zhang-ke der vielleicht wichtigste Vermittler der chinesischen Moderne: Seit seinem Langfilmdebüt „Pickpocket“ arbeiten sich seine Filme an den Umwälzungen ab, die sein Heimatland in den letzten Jahrzehnten in eine der größten Volkswirtschaften der Welt verwandelt, die vor allem aber auch das Leben von Hunderten von Millionen Menschen grundlegend verändert haben.
Unklar ist, was für eine Stellung Jias in Cannes und Venedig regelmäßig gefeierte Filme am heimischen Markt haben. Der chinesische Kinomarkt wächst als Begleiterscheinung ebenjener Modernisierung, deren originellster Chronist Jia ist, rasant. Schon bald dürfte er den US-Gesamtumsatz überholen. Das verändert auch die Position chinesischer Autorenfilmer: Bis vor Kurzem war ihr Hauptproblem die staatliche Zensur – Jia zum Beispiel produzierte seine frühen Filme komplett am Staatsapparat vorbei und konnte sie deshalb auch nicht legal in China vertreiben.
Gesetze des Marktes
Inzwischen hat sich der Druck der Zensur, zumindest nach Aussagen von Betroffenen, abgeschwächt – und wird ersetzt durch den anders gearteten Druck des Marktes, der in China, wie überall sonst, persönlich gefärbte, sozial engagierte Filmpraktiken höchstens in Nischen existieren lässt. Als Reaktion auf diese Entwicklung plant Jia seit Längerem einen großformatigen Historienfilm – nun hat er allerdings zunächst einen Episodenfilm gedreht, den man als einen Versuch lesen kann, die Themen seiner älteren Filme mit einer neuen, sich dem kommerziellen Genrekino annähernden Form zu verbinden. Die Geschichte um Dahai, mit der der Film beginnt, erinnert in ihren genauen Beobachtungen eines beengenden Milieus noch am ehesten an Jias bisheriges Werk. Es folgen noch drei weitere kurze Erzählungen, die neues Terrain erkunden – für Jia, vielleicht auch für den chinesischen Autorenfilm insgesamt.
Die Episoden sind narrativ kaum, dafür aber motivisch verknüpft: Alle laufen auf Gewaltakte hinaus – allerdings tun sie das auf jeweils sehr unterschiedliche Art. In der ersten Episode ist der finale Griff zur Waffe vielfach überdeterminiert, erscheint als eine zwar komplett unverhältnismäßige, aber doch nachvollziehbare Reaktion auf eine Serie von Kränkungen und gleichzeitig als Akt fehlgeleiteter Selbstermächtigung. In späteren Passagen bricht die Gewalt immer unvermittelter in die ihrerseits immer weniger kohärent erzählten Episoden durch. Sie erscheint immer weniger als eine Eigenschaft einzelner Individuen, immer mehr als eine der dargestellten Welt: Ein Wanderarbeiter verwandelt sich in einer atemberaubenden, kontinuierlich gedrehten Sequenz in einen Raubmörder; die Rezeptionistin eines Massagesalons versucht verzweifelt, sich die Härten der Sexindustrie vom Leib zu halten; und das besonders verstörende Schlusskapitel entwirft einen Antibildungsroman um einen jungen Mann, dem die Kontrolle über sein eigenes Leben immer noch ein bisschen gründlicher entzogen wird.
Auch stilistisch driftet der Film nach der ersten Episode – bzw. eigentlich schon mit deren Charles-Bronson-Ende – in ganz unterschiedliche Richtungen auseinander, kippt mal in atemlose Thrillerszenen, die an die Hoch-Zeiten des Actionkinos Hongkongs erinnern, schwenkt dann wieder auf ein melancholisches Jugendmelodram ein oder versucht sich in Anlehnung an japanische Schwertkampffilme in Studien stilisierter Gewalt. Als würde Jia das Arsenal der Populärkultur auf Bilder abtasten, die der chinesischen Gegenwart, der er nach wie vor sein Werk verschrieben hat, etwas zu sagen haben.
„A Touch of Sin“ entwickelt bei alldem nie dieselbe Prägnanz und motivische Dichte wie einige der Vorgängerfilme Jias (vor allem „Platform“ und „The World“). Sein neuer Film fühlt sich tentativer, brüchiger an – und bekommt vielleicht gerade in den Momenten, in denen ihm seine Welt zu entgleiten scheint, etwas Entscheidendes an ihr zu fassen.
■ „A Touch of Sin“. Regie: Jia Zhang-ke. Mit Jiang Wu, Thao Tao u. a. China, Japan 2013, 125 Min.