Hauptsache laut

Auch in China entwickelte sich während der WM hohes Fußballfieber, denn Fußball ist in China die populärste Sportart, dicht gefolgt von Basketball

VON SUSANNE MESSMER

China und Fußball? Mit komischen Gedanken wie diesen wäre in den letzten Tagen und Wochen beim deutschen Fan kein Topflappen zu gewinnen gewesen. Immer wenn man aus Peking während eines Spiels zu Hause anrief, schrie es wie blöde durchs Telefon: „Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist!“ Oder: „Deutschland steht Kopf!“ Dem ließ sich wenig entgegenhalten. Nicht einmal, dass man zur selben Zeit auf der anderen Seite des Erdballs in einer Pekinger Fußballbar von tobenden Chinesen umringt war.

Jetzt, da Deutschland seine Wunden versorgt und gänzlich unverkrampft dem Finale entgegensehen kann, jetzt sei es aber endlich mal gesagt. Die Weltmeisterschaft in China war herrlich. Mag sein, dass der chinesische Fußball unterentwickelt ist und schlecht. Es ist wahr: China hatte erst ein einziges Mal Jungs im Spiel, 2002 in Korea, und da waren sie schon aussortiert, bevor sie ein einziges Tor schießen konnten. Und trotzdem hat sich das Land in den letzten Wochen zu einem nie gekannten Fußballfieber aufgeschwungen. Zu einer Euphorie, die besonders ansteckend war, weil sie so vollkommen selbstlos schien.

Zum Beispiel Deutschland gegen Argentinien. Ein befreundetes Paar, er Ingenieur, sie Sekretärin. Beide pflegen in der Regel um zehn Uhr abends die Nachtruhe anzutreten. An diesem Tag lassen sie sich ohne großen Aufwand überreden, das Spiel gemeinsam in einer Bar anzusehen – und das, obwohl es in Peking mit sechs Stunden Zeitverschiebung nach hinten ankommt. Schon ein paar Stunden vor Spielbeginn müssen wir feststellen: In Sanlitun, dem Botschaften- und Ausgehviertel, ist alles ausgebucht. Wir wandern von Kneipe zu Kneipe, rühmen die großen Leinwände, mit denen sie alle protzen, die Nationalflaggen, die die Wände zieren, und die Kellner in den Ballack- und den Ronaldinho-T-Shirts. Nicht nur die Quoten des Fußballfernsehkanals sind zwölfmal so hoch wie sonst – auch hat sich der Bierkonsum in den Pekinger Bars verfünffacht.

Schließlich findet sich doch noch eine Bar mit freien Plätzen. Wo normalerweise vor allem Ausländer abstürzen gehen, ist heute alles von Chinesen okkupiert. Als es losgeht, übersetzt die Sekretärin den Kommentator: „Die Deutschen wirken wie Riesen neben den Argentiniern“, haucht sie und senkt dazu kurz die Lider. Ich will wissen: „Sind die meisten Chinesen eher für Deutschland oder eher für Argentinien?“ – „Für Deutschland natürlich!“, klopft mir der Ingenieur auf die Schulter. Darauf rät sie mir: „Hör nicht auf den Arschkriecher.“

Ganz in diesem Sinne lässt sich schon kurz nach Spielbeginn festhalten: In dieser Bar hält niemand zu keinem. Es geht nicht um Vorlieben, sondern darum, möglichst oft möglichst laut zu schreien. So muss man sich gehörig aufs Spiel konzentrieren um herauszufinden, ob der Jubel gerade einem schönen Pass der Deutschen, einem Beinahetor der Argentinier, einem schnöden Foul oder einer simplen Verlängerung gilt.

Fußball ist in China die populärste Sportart, dicht gefolgt von Basketball. So ziemlich alle chinesischen Zeitungen berichten fast ausschließlich von Fußball und Basketball – allerdings nicht vom chinesischen Fußball und Basketball, sondern von dem der erfolgreichen Länder. Die chinesische Regierung investiert dagegen auch mit Blick auf die Olympiade 2008 in Peking nur in Sportarten, die das Land angeblich repräsentieren, für die sich allerdings kein Mensch interessiert. Zum Beispiel in Gewichtheben oder Kugelstoßen. „Wir dagegen haben nicht einmal Plätze, auf denen wir Fußball oder Basketball spielen können!“, empört sich eine befreundete Sportreporterin nach dem Argentinien-Spiel. Als westlicher Beobachter vermutet man sofort Demokratie von unten. „Nein, nein“, lacht sie da nur. „Eher wünschen wir uns, die Regierung würde mehr Geld lockermachen. Der chinesische Fußball wird privat finanziert. Dadurch gab es in den letzten Jahren viele Korruptionsskandale. Das hat das chinesische Publikum so frustriert, dass wir heute lieber die Spiele der anderen ansehen.“

Die gleiche Sportreporterin ist es dann übrigens auch, die ein paar Tage darauf per SMS zur Niederlage Deutschlands kondoliert. Und zwar nachts um fünf, nach einer langen Nacht bei ein paar übermüdeten chinesischen Freunden, die eine Stunde vor Spielbeginn einschlafen, pünktlich zehn Minuten vor dem ersten Tor wieder aufwachen und sofort anfangen zu jubeln und zu schreien, als wären sie nie weg gewesen. Ich stelle fest, dass draußen schon die Sonne aufgeht, ein toller Anblick aus dem 21. Stock. Das Spiel ist zu Ende, vielleicht ist damit in Deutschland auch die WM zu Ende. In China ist sie es noch nicht. Kaum sind die Trostworte zu Ehren des deutschen Gastes gesprochen, da reift auch schon der Plan fürs Finale. Fröhlich verabreden wir uns vor der großen Leinwand im Ritan-Park, wo sich in den Fußballnächten Tausende versammeln sollen. Und nach dem Spiel, so machen wir aus, gehen wir zum Platz des Himmlischen Friedens. Dort wird jeden Morgen die chinesische Fahne gehisst.