: Das Montagsinterview„Ich war so unglaublich wütend“
Es geht um Qualität, nicht um Wiedergutmachung: Andor Izsák leitet das Zentrum für Jüdische Musik in HannoverVERGESSEN ODER BEWAHREN Er war gefeiertes Wunderkind, dann verbot man ihm zu spielen. Als er konnte, ging er in den Westen. Die erst von den Nazis, dann vom ungarischen Staat verfemte Musik der jüdischen Gotteshäuser will der Synagogal-Organist Andor Izsák retten
■ 1944 geboren im Ghetto von Budapest, wird elfjährig als „Wunderkind“ entdeckt und gefördert. Mit 13 beginnt er ein Studium an der Budapester Musikhochschule.
■ 1962 gründet er das „Lewandowsky-Ensemble“, europaweit das erste, das seit der Shoah wieder synagogale Chormusik aufführt. Als Dozent am Konservatorium gründet er den ungarischen Zweig des „Music Information Center“.
■ 1982 geht Iszák nach Deutschland, 1988 begründet er in Augsburg das Europäische Zentrum für Jüdische Musik. Es wird 1992, inzwischen in Niedersachsen ansässig, der Hochschule für Musik und Theater Hannover angegliedert. Izsák führt einen Studiengang „Synagogale Musik“ ein, an dem er seit 2003 eine Professur innehat.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Herr Izsák, die Orgel ist kein traditionelles Instrument in der Synagoge. Warum sind Sie ausgerechnet Organist geworden?
Andor Izsák: Die Orgel wurde 1810 von Reformern eingeführt und ist unter orthodoxen Juden immer noch umstritten. Das war anfangs auch für mich ein Problem, weil ich sehr orthodoxe Eltern hatte. Aber mit 13, nach der Bar Mitzwa – vergleichbar mit der Konfirmation – habe ich gesagt: Ich will nicht mehr in die orthodoxe, sondern in die neologe Synagoge gehen. Eine neologe Synagoge ist nicht liberal, trennt also nach wie vor Männer und Frauen – hat aber eine Orgel. Die hatte ich einmal gehört und war fest entschlossen, sie spielen zu lernen.
Waren Ihre Eltern damit einverstanden?
Nein, gar nicht! Ich habe das gegen ihren heftigen Widerstand durchsetzen müssen. Aber mein Vater hatte die Größe, mich trotzdem in die neologe Synagoge zu begleiten. Er wollte nicht, dass ich alleine ging.
Warum nicht?
Erstens, weil ich noch jung war und der Weg weit und verkehrsreich. Zweitens, weil es einen starken Antisemitismus gab. Der rührte einerseits daher, dass die jüdische Gemeinde im sozialistischen Ungarn als Klassenfeind galt, weil sie Unterstützung aus Amerika bekam. Andererseits gab es einen mühsam unterdrückten Volkszorn gegenüber Juden, den man aber ständig spürte. Beim Fußball etwa waren die gegnerischen Spieler „die Juden“ – das war ein geläufiges Schimpfwort. Deshalb hatten wir auch Angst, wenn wir in die Synagoge gingen. Man wusste nie, ob man unterwegs beschimpft oder bespuckt würde.
Trotzdem gab es im Nachkriegs-Budapest ein reges jüdisches Gemeindeleben.
Ja. Allerdings war die Gemeinde durch die Shoah stark dezimiert. Wir beklagen 600.000 ermordete ungarische Juden. Ungefähr 100.000 haben überlebt. Unter ihnen gab es große Kantorenpersönlichkeiten, die ich noch gehört und teilweise an der Orgel begleitet habe.
Wie begann Ihre Musiker-Laufbahn?
Da schon in meiner Kindheit klar wurde, dass ich das absolute Gehör habe, war mein Leben vorprogrammiert. Mit 13 habe ich an der Musikhochschule den Studiengang für besondere Begabungen besucht. Später war ich am Konservatorium und habe Diplome im Dirigieren, in Komposition, in Klavier gemacht. Und schon während des Studiums war ich Organist an der großen Budapester Dohány-Synagoge. Ab 1967 war ich allerdings nur noch „normaler“ klassischer Chor- und Operndirigent.
Warum?
Weil die Regierung es angeordnet hat. 1967, als in Israel der Sechs-Tage-Krieg ausbrach, kamen zwei Zivilpolizisten, die mir mitteilten, dass ich aufhören müsste. Wenn ich weiter in der Synagoge musizierte, sei ich „Zionist“ und damit Klassenfeind, sagten sie. In Ungarn – wie in der DDR, der CSSR und der UdSSR – waren mit Ausbruch des Sechs-Tage-Kriegs alle Juden als Zionisten abgestempelt. Ich hatte also die Wahl, ins Gefängnis zu gehen oder einen anderen Beruf zu suchen. Ich wechselte in den normalen Klassik-Betrieb.
War die Synagogal-Musik damit für Sie passé?
Nein. Glücklicherweise wurde meine Frau, die Pianistin Erika Lux, Anfang der 80er Jahre nach Deutschland berufen, und ich ging mit. Wir sind erst nach Bayern und später nach Hannover gezogen. Mich hat aber immer die Synagogalmusik umgetrieben, und ich habe mich auf den Westen sehr gefreut: Dies ist ein freies Land, hier kann ich mich frei entfalten, habe ich gedacht. Und dann habe ich nach den großen Synagogalkomponisten des 19. Jahrhunderts gesucht – Louis Lewandowski, Salomon Sulzer, Eduard Birnbaum – und nichts gefunden! Sie standen in keinem Fachlexikon. Als ob es diese Musik nie gegeben hätte. Dass die auch im Westen niemand kannte, hat mich wütend gemacht. Gemeinsam mit Freunden habe ich dann in Paris Konzerte gegeben, und die kamen so gut an, dass meine Freunde gesagt haben: Du musst das in institutionalisierter Form weitermachen! Ich hatte damals schon die Idee, in Paris ein Europäisches Zentrum für jüdische Musik zu gründen. Aber meine Freunde haben gesagt: Du musst das in Deutschland machen. Von dort ging die Zerstörung aus, da muss auch die Rekonstruktion stattfinden.
War das einfach?
Es war sehr mühsam, weil die nationalsozialistische Reichsmusikkammer systematisch Noten, Bücher und Tonträger zerstört hatte. Trotzdem habe ich viele Dokumente gefunden. Im Laufe der Zeit haben mich auch Menschen angerufen – aus Israel, Amerika, Südamerika, Australien und Südafrika –, die noch Noten oder Tonträger hatten. Sie hingen allerdings sehr an diesen Dingen, es waren für sie Erinnerungsstücke. Ich musste viel Überredungskunst aufbringen, damit diese Dokumente nach Deutschland zurückkehren konnten. 1988 habe ich dann in Augsburg das Europäische Zentrum für jüdische Musik gegründet und es 1992 quasi mit nach Hannover genommen.
Was genau macht Ihr Zentrum?
Ich hatte von Anfang an drei Ziele: Erstens die Anbindung an die Musikhochschule Hannover. Zweitens die Etablierung eines Studiengangs für synagogale Musik. Beides ist gelungen. Und schließlich wollte ich einen Ort finden, an dem meine Sammlungen – Handschriften, Noten, Bücher, Tonträger – unterkommen können. Außerdem meine Synagogenorgel-Sammlung.
Wo lagern Sie die derzeit?
Das verrate ich nicht.
Welche Orte waren im Visier?
Man hat mir hier in Hannover unter anderem die ehemalige Aussegnungshalle auf dem jüdischen Friedhof angeboten. Das behagte mir nicht. Ich selbst habe dann die Villa Seligmann gefunden: die Villa des „Continental“-Unternehmensgründers Siegmund Seligmann. Das Haus ist mit seinen zweistöckigen Räumen sehr geeignet für die Orgeln. Wenn alles gut geht, können wir im kommenden Jahr einziehen.
Warum war es Ihnen so wichtig, Teil der Musikhochschule zu werden?
Weil das eine Anerkennung der Qualität dieser Musik bedeutet. Denn deren Rekonstruktion ist mir nicht aus Gründen der Wiedergutmachung wichtig, sondern einzig wegen ihrer Qualität. Ich behaupte, dass diese Musik auf einer Stufe mit der christlichen Kirchenmusik steht.
Wie haben Sie das bei den deutschen Kollegen durchgesetzt? Es kannte ja niemand diese Musik.
Ich habe die besten Kantorenpersönlichkeiten nach Deutschland geholt und Konzerte gegeben. Nicht in Synagogen, sondern in Konzerthäusern. Ich wollte keine zusätzliche Hürde errichten. Am Ende habe ich sogar in Kirchen konzertiert. Das fiel mir nicht leicht, aber ich habe bemerkt, dass immer mehr Leute kamen. Unabhängig davon habe ich systematisch und stetig Politiker davon zu überzeugen versucht, dass diese Musik gerettet werden muss.
Haben Sie nie darüber nachgedacht, aufzugeben?
Nein. Ich war so unglaublich wütend, dass diese Musik zweimal zum Schweigen gebracht wurde: von den Nazis und von den Sowjets. Das ergibt eine geballte Ladung an Kraft.
Hätte Ihre Frau nicht den Ruf nach Deutschland erhalten, wären Sie dann in Ungarn geblieben?
Nein. Ich hatte die Nase voll von Ungarn. Ob ich unter anderen Umständen nach Deutschland gegangen wäre? Wohl eher nicht. Ich wäre nach Frankreich, England oder Amerika gegangen. Aber Ungarn hatte ich satt. Ich war immer ein sehr liberal denkender Künstler und durfte dort nie meine Meinung sagen. Ich durfte nie meine Musik ausleben, mir wurde immer alles verboten. Ich wollte ins Ausland reisen, man hat meine Anträge immer abgelehnt. Ich fühlte mich in Fesseln. Aber ich wollte nicht in der klassischen Form emigrieren: Meine Eltern lebten in Budapest und dieser Kontakt war für mich wichtig. Deshalb freute ich mich, als meine Frau berufen wurde. Ich hatte eine legale Möglichkeit zu gehen. Wäre ich auf andere Art emigriert, hätte ich meine Eltern nicht mehr sehen können. Das wollte ich aber unbedingt.