Braucht der Fußball neue Regeln für mehr Offensive?

ja

Dem Zuschauer steht der Sinn nach Spektakel. Er will eine Weltmeisterschaft, die viele Tore bringt, Offensivfußball und Unterhaltung. Den Wunsch des Konsumenten nach Zerstreuung konnte das Championat nicht erfüllen. Es war kein Turnier für Ästheten. Systemtheoretiker und Taktikfüchse hatten ihren Spaß, die breite Masse aber erregte sich über die Qualität der Spiele – zu Recht. Was kann getan werden, damit das Spiel attraktiver wird? Oder unterliegt der Fußball rhythmischen Schwankungen, die einmal zu spielerisch wertvollen Kicks führen, ein andermal zu lähmenden Defensivschlachten?

Halten wir fest: Das Spiel hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren grundlegend verändert. Die Spieler sind um einige Zentimeter größer als noch im vergangenen Jahrhundert. Sie legen etwa vier Kilometer mehr auf dem Platz zurück. Die Geschwindigkeit – siehe Odonkor & Co. – ist gestiegen. Gespielt wird nur noch in einem Korridor von dreißig bis vierzig Metern. Der Torwart ist in die Rolle des Liberos geschlüpft. Die Profis legen Wert auf robuste Physis und leichtathletische Fitness. Dadurch ist der Raum auf dem Spielfeld kleiner geworden. Die Spiellenker haben weniger Zeit, Impulse zu setzen. Sie stehen permanent unter Zeitdruck. Die Abwehr macht ihnen als ständiger Stressfaktor das Leben schwer. Nur gelegentliche Geistesblitze zerstören das Schema der Kontrolle und Destruktion. Was ist also zu tun?

Selbst Fifa-Boss Joseph Blatter denkt über Regeländerungen nach – und das als eingefleischt konservativer Fußballwächter. Diskutiert wird über größere Tore, weniger Spieler, die Abschaffung der Abseitsregel und über jenen Raum, den der Torwart zum Handspiel nutzen darf. Alles nur Mumpitz? Mitnichten. In nahezu jeder Sportart haben Anpassungen an die Moderne stattgefunden. Im Basketball wurde beispielsweise die Angriffszeit verkürzt, im Tischtennis der Ball vergrößert, im Eiskunstlauf das Bewertungssystem novelliert, im Skispringen die Gewichtsregel eingeführt. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Die Sportarten passen sich ihrer Umwelt an wie der Kolibri an die Bedingungen des Urwalds. Warum sollte ausgerechnet der Fußball ein Hort der Unabänderlichkeit bleiben?

Möglich wäre in der Tat eine Vergrößerung des Tores. Das scheint praktikabel. Die Aussicht, künftig auf einen größeren Kasten zu schießen, sollte den Stürmern doch Lust auf Attacke machen. Schwerer ist es indes, an den Grundfesten des Regelwerkes zu rütteln: 22 Spieler und das Abseits. Da sollte alles beim Alten bleiben. Wir wollen ja schließlich nicht, dass sich Generationen von Ahnen im Grabe herumdrehen. MARKUS VÖLKER

nein

Jetzt werden die Vorschläge kommen: Vergrößerung der Tore, nur zehn Spieler, Änderung der Abseitsregel zu Gunsten der Stürmer. Wie wär’s mit Gewichten für größere Spieler, um den Vorteil beim Kopfball auszugleichen? Oder dürfen’s vielleicht zwei Bälle sein?

Allerdings: Solche Gedanken entspringen einer durchaus Besorgnis erregenden Bilanz:

Ja, diese WM war nach dem Turnier 1990 in Italien die mit den wenigsten Toren im Schnitt.

Ja, bei dieser WM erreichten mit Italien und Frankreich die Teams mit der besten Defensivarbeit das Finale.

Ja, die besten Teams spielten mit der Doppelsechs, zwei zentralen Defensiven im Mittelfeld.

Ja, auch die für ihren vermeintlichen Offensivfußball so hoch gelobten Deutschen spielten das so – im Viertel- und Halbfinale gegen starke Gegner.

Aber: Nein, Regeländerungen würden gar nichts verändern.

Es ist so: Weltmeisterschaftsturniere sind längst keine Trendsetter mehr in Sachen Spieltaktik. Mag sein, dass in den englischen, italienischen oder spanischen Ligen der ein oder andere Topverein dieses Modell mit nur einem Stürmer (4-5-1) überträgt. Aber es ist doch vielmehr so, dass modernen Fußball auszeichnet, mehrere Modelle für bestimmte Situationen in petto zu haben – also auch das 4-5-1-System. Ein Defensivinferno also ist nicht zu erwarten. Der beim letzten Turnier (EM 2004 in Portugal) gepriesene One-Touch-Fußball, dieses Fest des Angriffsfußballs, wird sich weiter im Vereinsfußball entfalten, weil in den Nationalteams ohnehin zu wenig Zeit vorhanden ist, um Spielsituationen über Monate hinweg einzustudieren. Und waren es nicht die argentinischen Ballzirkulierer, die nur deswegen gegen die Deutschen ausgeschieden sind, weil Trainer José Pekerman der Mut verließ und auf Defensive umstellte?

Es ist diese romantische Verklärung des Fußballs. Oder sagen wir: die brasilianische Sehnsucht in jedem Zuschauer. Dieses: Lieber ein 3:4 als ein 1:0. Aber jetzt mal im Ernst: Will noch irgendjemand Fußball sehen auf dem Niveau des 3:4-Halbfinales 1970 in Mexiko zwischen Deutschland und Italien? Das waren 90 langsame und zähe Minuten bis zur Verlängerung. Schrecklich. Es ist ein verquerer Anspruch, dass Fußball „schön“ zu sein hat. Gewiss, Fußball ist in seiner Ausdifferenzierung weit vorangeschritten. Aber er würde sich einer neuen Regel ebenso anpassen wie zum Beispiel auf die vor nicht allzu langer Zeit getätigte Änderung der Abseitsregelung auf eine stürmerfreundlichere gleiche Höhe – vielleicht sogar mit noch defensiveren Varianten. Und das wäre ja gar nicht schön. THILO KNOTT