Ernste Spiele

„Morrinho“ im Haus der Kunst in München – oder wie ein unerwartetes Kinderabenteuerunternehmen die Favela zum Kult- und Kunstobjekt macht

Die Bedingungen des Spiels, sind die Bedingungen des Lebens. Nur – das Spiel führt in eine andere Welt: die der Kultur

VON IRA MAZZONI

Rufen und Schreien. Die Stimmen überschlagen sich, werden ängstlich hoch und höher – dringlich, aufgeregt, panisch. Maschinengewehrsalven mischen sich ein. Zwei Autos rasen die steile Straße hinab, eins dreht sich, bleibt liegen, wird ins Kreuzfeuer genommen und schließlich angezündet. „Verräter werden geschmolzen“, lautet der lakonische Kommentar aus dem Off. Der Kampf zwischen Drogendealern ist nur ein Spiel. Knietief stehen die Jugendlichen zwischen Grün und Schachtelhäusern auf ihrem Hügel, den sie mit aufgeschlagenen Lochziegeln aufgetürmt und zum verschachtelten Ebenbild ihrer Favela ausgebaut haben. Sie bewegen Spielzeugautos über extreme Rampen und ihre Akteure, die Drogendealer und Polizisten, die Funkstars und die Fußballer, die Arbeiter und Arbeitslosen, die Frauen und die Kinder sind jeweils aus zwei würfeligen Legostückchen zusammengesetzt. Frauen bekommen einen Pferdeschwanz aus Wolle zwischen Kopf und Rumpf geklemmt. Playmobil-Figuren sind eher die Ausnahme. Denn alles auf diesem Hügel wurde entweder geklaut oder im Abfall der Stadt gefunden.

Die Bedingungen des Spiels, sind die Bedingungen des Lebens. Nur – das Spiel gibt Freiheit und führt in eine andere Welt: die der Kultur. Mit Rückwirkung auf die echte Favela: Denn inzwischen kommt regelmäßig ein Videoteam in die Communidade Vila Pereia da Silva auf einem der vielen Hügel von Rio de Janeiro und filmt das Spiel in dem 300 Quadratmeter großen Modell „Morrinho“. Nelcirlan Souza de Olivera und seine Freunde sind Coproduzenten, Regisseure, Kameraleute des TV-Morrinho. Mit neuem Selbstbewusstsein gehen sie mit ihren Geschäftspartnern auch runter in die Stadt und drehen dort. Die Wahrnehmung der Vila Pereia da Silva hat sich komplett verändert. Auch die Wertschätzung. Architekten begeistern sich für die Selbstorganisation. Künstler reflektieren das autopoetische System und Kuratoren laden die jugendlichen Modellbauer nach Paris, München und demnächst auf die Biennale von São Paulo ein, vielleicht auch nach Venedig. Die Favela als Zukunftsmodell? Morrinho – ein Traumbild für Kulturleistung schlechthin?

Begonnen hat alles vor acht Jahren. Nelcirlon war damals 14. Seine Eltern waren aus der Stadt auf den Hügel gezogen. Und der fremde Junge schaute sich diese steil gewürfelte Enklave an, fand sie nicht schön, aber faszinierend. Zusammen mit seinem Bruder machte er das, was hier alle gemacht hatten, er nahm sich ein Stück steiles Land und begann seine Favela zu bauen und all das, was ihm täglich begegnete nachzuspielen. Das erste Baumaterial waren Kacheln aus dem Haus der Eltern, dann kamen die Ziegel. Bald kamen die anderen Jungs, guckten zu, machten mit. Straßen wurden gebaut. „Jeder brachte eine neue Idee für die Miniatur-Favela mit und zeigte den anderen, wie es geht – jeder hat vom anderen was gelernt.“ Schließlich konnten sie sogar Elektrizität organisieren. Nun gibt es auf ihrem Dorfplatz auch nächtliche Funk-Feste mit lauter Musik, so wie sie die Drogendealer organisiert hatten. All die Dramen des Alltags – jedes Jahr gibt es in Rios 700 Favelas etwa 4.000 Tote, 612 davon Kinder und Jugendliche – werden von Nelcirlon und seinen Freunden aufgegriffen und verarbeitet. Auch die Love-Storys und die vielen anderen Geschichten. Das Spiel ist Sucht und Ritual. Wie bei den Festspielen der Antike kann eine Handlung kaum an einem Tag abgeschlossen werden. Die Nacht setzt nur eine kurze Pause. Selbstverständlich genießt die Spielstätte wie in der Antike besonderen Schutz, ist heiliger Bezirk: „Bitte nicht berühren“ steht am Eingang des Bezirks wie am Kunstwerk eines Museums.

Dort ist nun eine zweite Parallelwelt entstanden. Drei Wochen haben die Jungs mit Unterstützung von Stefan Bamgärtner und Aigner Architekten im Haus der Kunst geschuftet, um einen rutschfesten Hügel aufzuschichten und eine neue Favela am Ende der von Leon Krempel kuratierten Ausstellung „Frans Post. Maler des verlorenen Paradieses“ zu bauen, während im Erdgeschoss die architektonischen Gestaltexperimente von Herzog & de Meuron zur Schau gestellt werden.

So reizvoll diese Konstellation ist – so sehr verliert Morrhino im Museum seine Identität: Es ist Architekturmodell und totes Kunstobjekt. Und so wundert es wenig, wenn auf der Spitze des Hügels eine Mega-Architektur thront, die sich Museum nennt und wie die Grande Arche in Paris anmutet. Es wundert auch nicht, dass alle Helfer und Unterstützer brav mit Graffiti an den Favela-Ziegeln verewigt werden, sodass es im Kunst-Morrinho auch ein „Schumann’s“ gibt. Doch, der Polizei-Hubschrauber-Landeplatz ist wie im Vorbild von Maschinengewehren umstellt, in der Peripherie der Siedlung existieren Waffenlager und die Aktionen der Lego-Puppen scheinen reichlich zwielichtig, nur – die Kopie bleibt stumm. Die Spielregeln wurden außer Kraft gesetzt.

Gerade aber das selbst organisierte Spiel auf dem Hügel von Rio hat eine soziales und kulturelles Potenzial entwickelt, das sich das Bauhaus Dessau für sein im Rahmen des viel gerühmten brasilianischen Reintegrationsprogramms „Favela-Bairro“ realisierten Projekts gewünscht hätte. Die „Celula Urbana“ in der zweitgrößten Favela Rios, Jacarezinho, wollte über eine zentrale etablierte Medienwerkstatt und Ausbildungsstätte Brücken zur Außenwelt und zur Universität schlagen. Heute erklärt Omar Akbar das Projekt schon in der ersten Entwicklungsstufe für gescheitert. Weil die Politik nicht mitspielt. Insofern ist Morrinho ein grandioser Gegenentwurf, wie es spielend auch ohne Politik und importierte Kunst-, Architektur- und Sozialprojekte geht. Die Sache hat nur einen Nachteil: Das ernste Spiel von Nelcirlan, Rodrigo, Paulo, Luciano, José Carlos und Ranieri kann nicht reproduziert werden. Es hat einen definierten Wirkungsort: die Vila Pereia da Silva.

Bis 17. September