: Fehlbar müsst ihr sein!
RÜCKRUNDENSTART Ist der absichtliche Ballverlust in einem Fußballspiel ein innovatives taktisches Mittel? Und wenden die Strategen des allmächtigen FC Bayern München das womöglich schon an? Eine Recherche
VON BERND MÜLLENDER
Auch bei den Überfliegern des Weltfußballs aus München klappt nicht immer alles. Toni Kroos vertändelt nach einer Ballstafette gelegentlich unerwartet den Ball. Mario Götze oder Thiago gerät ein Querpass zu kurz. Das gibt’s selbst beim FC Bayern. Kleine Flüchtigkeitsfehler können auch den Besten unterlaufen. Oder war das Absicht? Den Ball mit Vorsatz dem Gegner in die Füße spielen? Schon lange gibt es Leute, die behaupten, genau das lasse Pep Guardiola trainieren und womöglich sogar im Spiel umsetzen. Das habe der Katalane schon zu Barça-Zeiten gemacht.
Wie bitte? Zuletzt sagte ARD-Kommentator Steffen Simon im Dezember beim Klub-WM-Finale des FCB gegen Casablanca: „Mitunter verlieren die Bayern den Ball bewusst, um ihn sich schnell wiederzuholen.“ Das seien „neue taktische Varianten von Pep Guardiola“. Klingt bescheuert und wider alle Logik, könnte aber sinnvoll sein: Der womöglich eiserne Defensivverbund des Gegners ist mit ersten Offensivgedanken beschäftigt, lockert minimal entspannt das betonartige Abwehrgebilde – und dann sticht man zu, jagt dem Gegner mit vehementem Offensivpressing den Ball wieder ab und nutzt neue, kurzzeitig freie Räume zur Attacke. Bestenfalls zum Tor.
Und bitte: Zurückerobern durch Pressing kann man den Ball nur, wenn man ihn verloren hat. Der Fehlpass, von stöhnenden Fans reflexartig bepfiffen, wird hier zur klugen Innovation.
Aber ist das realistisch? Fußballaffine Freunde sind uneins. Tja, sagt M., „theoretisch würde das schon Sinn machen. Wenn man ihn bei all der Überlegenheit sonst kaum verliert.“ Und im Spiel? „Vielleicht mal in Minute 90, wenn man hoch führt. Dann hätte man einen Plan, wie man sich verhält.“ G. dagegen will das widernatürliche Treiben nicht glauben. Wiewohl er anfügt, trotz allen Fußballsachverstandes kein idealer Experte zu sein: „Gefühlt denke ich das Spiel immer noch mit Libero.“
Logische Spekulationen
Auf Höhe der Zeit ist sicher Christoph Biermann. Auch er sagt ohne jedes Zögern: „Nein, das gibt es nicht, auch nicht bei Pep Guardiola“. Biermann ist Chef des Fußballmagazins 11 Freunde und Fachautor diverser Taktikbücher. Das Massenblatt Sportbild hatte Steffen Simon gleich abgekanzelt. Solche Thesen von „Valium-Simon“, analysierte das Blatt, seien ja „haarscharf an der Grenze zur Comedy – oder bereits darüber hinaus“.
Kenner der Szene ist auch der Sportchef einer großen Münchner Zeitung. Er hält die Spekulationen für logisch: „Die sind nicht nur gut, die sind auch clever bei den Rothemden.“ Thiago sei „der Prototyp einer solchen Strategie“. Und hatte nicht Guardiola den um jeden Preis haben wollen! „Es wurde schon damals bei Barça darüber geredet“, bestätigt der Bayern-Intimus, „dass Ballverlust zur Strategie gehört“, ähnlich wie das Bauernopfer beim Schach. Dann gerät der Mann ins Schwärmen von „überlegener Schwarm-Intelligenz bei Rückeroberung“, und wechselt die halbe Zoologie ein: Sobald der Ball mal verloren ist, „beschleunigen alle wie die Piranhas“ – und hetzen nach der Beute. „Die Bayern-Hornissen holen sich das Ding wieder – und stoßen in die in der kurzen Euphorie geöffneten Lücken zum brutalen Durchbruch.“ Das werde selbstverständlich trainiert. „Und dann“, glaubt er, „ist der Weg zur Absicht nicht mehr weit. Absolut überzeugend, die Idee. Das wahre Rasenschach.“
Ein Intimus der spanischen Szene winkt ab. Er hält die Vermutung „für einen Mythos, der aber des Öfteren wiederholt“ werde. Im Training bei Barcelona habe er „noch nie eine Übung gesehen, bei der absichtlich der Ball verloren und dann gepresst wird“. Kleine Zweifel bleiben ihm: „Aber Garantie übernehme ich nicht.“
Martin Hermanns, Jugendleiter des kleinen Klubs Blau-Weiss Aachen-Burtscheid, verweist lächelnd auf seine F-Jugend, die da gerade über den Aschenplatz wieselt: Da gehöre Ballverlust und sofortige Rückeroberung im sehr schnellen Wechsel quasi zum natürlichen Verhalten. Dann überrascht er mit größter Selbstverständlichkeit: „Ich glaube, so etwas trainieren alle Bundesligamannschaften.“ Und im Spiel absichtlich den Ball verlieren? „Das ist was anderes. Sicher, zuerst würde ich es den Bayern zutrauen. Aber wirklich absichtlich? Das glaube ich eher nicht.“
Ewald Lienen, einst Chefcoach in Duisburg, Köln und Gladbach, derzeit beim rumänischen Erstligisten Galati, hat den absichtlichen Ballverlust noch nie trainiert. „Meine Mannschaften hatten immer genug Ballverlust von allein“, scherzt er. Seine Alternative: „Schnelles Umschalten kann man hervorragend mit einem plötzlichen zweiten Ball trainieren. Das lasse ich gern üben.“ Theoretisch denkbar sei der Vorsatzballverlust bei Mannschaften „wie Barcelona oder Bayern, vielleicht sogar Dortmund: Wer so selten den Ball verliert, der könnte auf die Idee kommen. Schwer vorstellbar, aber denkbar.“
Salzburger Experiment?
Und im Spiel? „Das ist schwachsinnig, absolut abwegig“, sagt Lienen. „Ziel des Spiels ist es, Tore zu erzielen und nicht, speziell gut im Gegenpressing zu sein, auch wenn das zu Toren führen kann.“ Dieter Hecking, Coach in Wolfsburg, winkt auch ab. „Ich habe den Ball lieber in den eigenen Reihen.“ Vorsätzlich-strategisches Herschenken? „Nein, das habe ich nicht im Trainingsrepertoire.“
Jörg Schmadtke, Sportdirektor beim 1. FC Köln, kennt die Theorie schon lange, sagt er. Er traue den Bayern zwar „fast alles“ zu, aber diese Idee hält er „für fast ausgeschlossen“. Doch wer weiß, lästert Schmadtke, „vielleicht haben sie es in Salzburg erstmals probiert“. Da verlor der Superklub vergangenen Samstag ein Testspiel 0:3. Beobachter führten die sensationelle Klatsche auf taktische Versuche mit der ungewohnten Dreierkette zurück.
Für Lothar Matthäus hingegen ist der Diskurs ein alter Hut. Im Gespräch mit Spiegel Online klärte er kürzlich auf, Milan habe den absichtlichen Ballverlust bereits in den achtziger Jahren praktiziert. Und er selbst hat den bewussten Fehlpass natürlich längst in seinem Repertoire: „Das habe ich auch in der bulgarischen Nationalmannschaft trainieren lassen.“
Steffen Simon, der Auslöser der Debatte, möchte sich auf taz-Bitte zur Causa nicht äußern. Wohl aber ruft Markus Hörwick, Mediendirektor des FC Bayern, auf schriftliche Anfrage persönlich und so umgehend zurück, dass man an einen Stich ins Wespennest glauben möchte. „Wo haben Sie das denn her?“, brummt er, ohne eine Antwort zu verlangen. Nun, man gebe zwar grundsätzlich „keine Auskünfte zu taktischen Dingen“, wiewohl er diese Vermutung kommentieren möchte: „Mit einem Wort: abenteuerlich.“ Bei Pep Guardiola sei „Ballbesitz das Zauberwort und nicht Ballverlust“. Aber – siehe da: „Gehört habe ich die Gerüchte zu Guardiolas Barcelona-Zeiten auch schon.“
Man will es wahrlich nicht glauben. Aber man traut es den allmächtigen Pep-Münchnern trotz aller Dementis und Argumente irgendwie doch zu. Darüber hatte sich auch Bayern-Direktor Hörwick gefreut: „Da können Sie mal sehen.“ Das Schönste an der Debatte: Jeden Ballverlust könnte ein Spieler in Zukunft zur Strategie umdeuten. Bestimmt sagt ein Fußballstar demnächst im Interview treuherzig: „Ich hab den Ball nicht verdaddelt. Ich handelte auf höhere Weisung.“
Den Rückrundenauftakt des FC Bayern heute Abend in Mönchengladbach wird man sich mit ganz anderen Augen ansehen können. Was für ein cleverer Fehl-, äh Querpass von Philipp Lahm.