: Der rheinische König der Ohrwürmer
Das ehemalige Wunderkind blieb bis zuletzt kreativ. In seiner Karriere schrieb Gerhard Jussenhoven mehr als tausend Lieder, viele deutsche Schlagersänger verdanken ihm ihren Erfolg in den Hitlisten. Trotzdem ist sein Name heute vielen unbekannt. Zum Tode des Kölner Komponisten
VON THOMAS MOLZAHN
„Ich möchte 100 Jahre werden!“ Dieser optimistische Lebenswunsch sollte sich für seinen musikalischen Weggefährten Johannes Heesters erfüllen, der Schöpfer des gleichnamigen Liedes verstarb jedoch am vergangenen Freitag mit „nur“ 95 Jahren in seiner Kölner Villa. Gerhard Jussenhoven gehört weit über die Grenzen seiner rheinischen Heimat hinaus zu den berühmtesten Vertretern der leichten Muse. Mit den kölschen Originalen Willy Ostermann, Karl Berbuer und Jupp Schmitz ist er der populärste Komponist rheinischer Lieder und Karnevalsschlager. Er blieb kreativ bis ins hohe Alter, mehr als tausend Titel entstammen seiner Feder, darunter Ohrwürmer wie der Schunkelwalzer „Kornblumenblau“ aus dem Jahr 1938.
Jussenhoven wurde 1911 im gutbürgerlichen Kölner Vringsveedel als Sohn eines Süßwarenfabrikanten geboren. Sein musikalisches Talent ist früh gefördert worden. Schon das 14-jährige Wunderkind begleitete Karnevalsikone Willy Ostermann im altehrwürdigen Gürzenich am Flügel. Sein erstes frühreifes Opus „Die Liebe des Barons“ kam dagegen über die ersten Szenen nicht hinaus – Vater Servatius bestand auf eine solide Berufsausbildung. Gerd promovierte 1937 als Jurist, arbeitete bei der Industrie- und Handelskammer als Anwalt für Wettbewerbsrecht, studierte aber nebenbei Klavier und Harmonielehre.
Mit dem pfiffig-bodenständigen Straßenbahnfahrer Jupp Schlösser schrieb er dann seine ersten Krätzjerleeder, bissige kölsche Volkslieder wie „Colonia, du wunderschöne Stadt am Rhing“, sowie hochdeutsche Songs und Couplets („Gib acht auf den Jahrgang!“). Das nur scheinbar naive Künstlerduo ließ sich nie ideologisch instrumentalisieren, wie so manche scheinbar harmlos-biedere Rühmann-Filmklamotte, die der willkommenen Ablenkung von der braunen Wirklichkeit diente. Die mitunter frech-frivolen Texte der Beiden enthielten oft Köln-typische kabarettistische Spitzen und subversive Anspielungen auf die Machthaber.
Nach dem Krieg startete der Vollblutmusikant eine erfolgreiche Karriere als Pianist und Hitproduzent der kölschen Diseuse Grete Fluss am Tazzelwurm-Varieté. Bald schuf Jussenhoven heiter-besinnliche Melodien, flotte Rhythmen und romantische Balladen für die Showstars der Wirtschaftswunderjahre. Für Peter Alexander schrieb er den „Badewannen-Tango“, für Renate Holm „Ein Gruß, ein Kuß, ein Blumenstrauß“, für Billy Mo das „Bier aus Bavaria“ und Ilse Werner sang sein „Jeder Mensch braucht zum Glück noch einen anderen“. Für die hohe Qualität dieser Lieder bürgte auch die erste Garde von Textdichtern wie Hans Bradtke, Kurt Feltz oder Charly Niessen.
Besonders fruchtbar wurde ab 1952 die Zusammenarbeit mit dem Kölner Heimatsänger Willy Schneider. Der war der ideale Interpret von originellem Liedgut für alle Lebenslagen und wurde auch während einer USA-Tournee 1961 umjubelt. Das Stück „Man müsste noch mal zwanzig sein!“ entsprach wohl dem Zeitgeist und wurde zum Evergreen, den die Kölschrockband Brings in der Karnevalssession 2006 als nostalgische Coverversion aktualisierte.
Doch der auch symphonisch versierte Jussenhoven pflegte nicht nur die musikalische Kleinform, sondern auch große orchestrale Besetzungen. Damit bereicherte er das Operetten- und Musicalgenre um eine spezifisch rheinische und literarisch ambitionierte Variante. Unterhaltung mit Niveau boten die Revue Eau de Cologne (1963), die Kotzebue-Adaption „Die deutschen Kleinstädter“ (1979) und das obrigkeitskritische Satirical „Good luck, Bill“ (1989).
Der hoch geehrte Grandseigneur des Entertainment galt privat als Charmeur und Kavalier der alten Schule, beruflich als cleverer Geschäftsmann, der sogar seine eigene Verwertungsgesellschaft Edition Capella gründete, die heute zum Hans-Gerig-Musikalienverlag gehört. Von 1950 bis 2000 engagierte er sich in wechselnden Funktionen bei der GEMA. Alterswerke wie das Weihnachtsmärchen Befana (1992) schließen dann den Reigen. Das Dramolett „Venus auf Rädern“ harrt noch der Uraufführung als künstlerisches Vermächtnis.
Die eigenwillige Trude Herr sang stets nur eines seiner Lieder: Das Chanson ähnliche „Keiner nimmt was mit von dieser Welt!“. Ihr wehmütiger Abgesang „Niemals geht man so ganz!“ wird nun auch Gerhard Jussenhoven verabschieden. Auch er lebt – hoffentlich – in seinen Liedern weiter.