: Schuldlose mit Sehnsucht nach Sühne
FRANKREICH 2 Wenn Dostojewski und Kafka das noch gewusst hätten: Knapp, reduziert, kraftvoll war die Sprache von Emmanuel Bove – nun wurde sein Roman „Schuld“ erstmals ins Deutsche übersetzt
Dostojewski ist das Vorbild, das verrät schon der französische Originaltitel „Un Raskolnikoff“. Auch der deutsche Titel „Schuld“ ist eine Reminiszenz an den russischen Klassiker. Es ist ganz einfach: Wenn man sich Dostojewskis Großroman „Schuld und Sühne“ als eine kräftige Brühe vorstellt, dann ist Emmanuel Boves erstmals 1931 erschienener, knapp hundert Seiten umfassender Kurzroman ein Konzentrat der gleichen Geschmacksrichtung, kurz: ein Brühwürfel – und als solcher nicht weniger spannend. Boves Antiheld Changarnier trägt Züge von Raskolnikoff, er ist unruhig, hat Fieber, leidet unter Wahnvorstellungen, auch ihn plagt eine entsetzliche Schuld, deren Sühne er leidenschaftlich, ja krankhaft herbeisehnt. Gleichzeitig entstammt er deutlich dem 20. Jahrhundert, erinnert an Antoine Roquentin, den Ich-Erzähler aus Sartres „Ekel“, oder ähnelt den irritierten, verlorenen Figuren Franz Kafkas.
Bove wird 1898 in Paris geboren, als Sohn eines russischen Vaters, auch daher rührt sicherlich die literarische Affinität. Für das deutsche Publikum hatte Peter Handke diesen großen Romancier wiederentdeckt, zu dessen Bewunderern schon Colette und Rilke zählten, und gleich mehrfach glänzend übersetzt. Die ebenfalls gelungene Übersetzung von „Schuld“ – erstmalig ins Deutsche – stammt von dem Bove-Experten Thomas Laux, der die hübsche Ausgabe im Lilienfeld Verlag mit einem instruktiven Nachwort versehen hat.
Slapstick à la Chaplin
Auch wenn der Vergleich mit Dostojewski von Bove klar provoziert wird, überwiegen selbstverständlich die Unterschiede. Das bewahrt den Autor davor, des Epigonentums verdächtigt zu werden. Den Beweis für seine Originalität liefern auch etliche andere seiner unzähligen Werke. Die grotesken Begebenheiten in „Schuld“ schildert Bove als auktorialer Erzähler und begeistert sich ganz offensichtlich für das Absurde: „Komm schon, reg dich ab, nimm deinen Hut und geh mit uns dem Glück entgegen“, fordert etwa Changarnier völlig abrupt und mit falsch herum aufgesetztem Hut einen Barbesitzer auf, dem er gerade ein Glas zerdeppert hat. Boves Sprache ist knapp, reduziert auf das Wesentliche und dabei immens kraftvoll. Einzelne Szenen könnten aufgrund ihrer Plastizität und auch des allgegenwärtigen Slapsticks à la Chaplin oder Buster Keaton einem Schwarzweißfilm entnommen sein.
Die Ausgangssituation ist das „elende Zimmer“, in dem Changarnier haust. Von dort aus begibt er sich auf eine Odyssee durch die winterlich nächtlichen Straßen von Paris, gefolgt von seiner Freundin Violette, der er Vorträge über die Nichtigkeit ihres Daseins hält. Eine wiederum vollkommen absurde Begegnung mit einem Mörder, der den beiden sein Verbrechen bekennt, lässt Changarnier über einen von ihm begangenen Mord fantasieren. Letztendlich landet er bei der Polizei. Die Episode wirkt wie ein Gegenentwurf zu Kafkas „Prozess“: Gegen seine hartnäckige Auffassung und gegen seinen Willen beweist die Polizei seine Unschuld. Er ist frei von Schuld, sein Verbrechen ist ein eingebildetes.
Die Sehnsucht nach Sühne steht für den Verlust eines Sinns, an dem Changarnier festhält, den er wieder zu finden trachtet. Sein Schuldgefühl erscheint abstrahiert, auf einer höheren Ebene liegend. „Es hat keine Strafe, es hat keine Bestrafung gegeben. Meine Schuld gegenüber der Menschheit ist nicht beglichen.“ TOBIAS SCHWARTZ
■ Emmanuel Bove: „Schuld“. Aus dem Französischen von Thomas Laux. Lilienfeld, Düsseldorf 2010, 121 Seiten, 17,90 Euro