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Archiv-Artikel

Der Fluch des Gefängnisstücks

Mit „Im geschlossenen Raum“ liegt jetzt der letzte Roman des im vergangenen Jahr gestorbenen ungarischen Schriftstellers István Eörsi auf Deutsch vor

Die Insel als Ort der Verbannung für den Schriftsteller – dafür gibt es in der europäischen Literaturgeschichte seit Ovid zahllose Beispiele. Die Ambivalenz zwischen der Abgeschlossenheit des Inselraums und seiner besonderen Offenheit zur Kommunikation prägt die Auseinandersetzung der Schriftsteller mit ihrem Exil: Eine Insel ist einerseits eine Welt für sich, sie muss aber immer auch in Kontakt treten zu anderen Welten, wenn sie überleben will.

Knapp ein Jahr nach dem Tod des ungarischen Schriftstellers István Eörsi gibt es jetzt dessen letzten Roman „Im geschlossenen Raum“ auf Deutsch. Auch hier ist es der geschlossene Raum einer Insel, der dem Protagonisten als Ort eines freiwillig gewählten Exils, als Rückzugsort dient. Der Schriftsteller Borsi lebt auf einer Donauinsel nahe Budapest, deren Verbindung zum Festland durch nur unregelmäßigen Schiffsverkehr erschwert ist. Borsi – nicht zufällig erinnert der Name des Schriftstellers im Buch an denjenigen des Autors. Gleich zu Beginn erklärt der Erzähler – oder der Autor István Eörsi –, er wolle sich in seinem Roman zu Versuchszwecken „Borsi“ nennen und so die Grenzen zwischen Erinnerung und Fiktion verwischen: „Im geschlossenen Raum“ wird dadurch von der ersten Seite an zu einer Art Roman im Roman. Es gibt den Autor Eörsi, der seine Figuren mit kritischer Distanz betrachtet, der die Entwicklungen der Handlung kommentierend begleitet und der nicht zuletzt immer wieder seine eigene Schreibsituation in den Jahren 2001 bis 2003 reflektiert. Und es gibt die Figur Borsi, die mit Eörsi wichtige biografische Eckdaten und wohl so manchen Charakterzug gemein hat.

Der Titel dieses verschachtelten Romans bezieht sich dabei nicht allein auf die Insel, auf der Eörsis Alter ego Borsi lebt. Der geschlossene Raum ist weit größer, als es die kleine Donauinsel sein kann. Im Roman geht es vor allem um Borsis wichtigstes Theaterstück und um die endlose Geschichte seiner Nichtaufführungen in Ungarn – dieses Stück heißt ebenfalls „Im geschlossenen Raum“. Ein „Gefängnisstück“, so heißt es, sei dieses Drama – und auch wenn der genaue Inhalt dieses Gefängnisstücks schwer fassbar ist, so werden doch die Umstände umso deutlicher, unter denen es geschrieben und in den Jahren der Diktatur in Ungarn verboten wurde.

Borsis Stück spielt in dem geschlossenen Raum einer Zelle des Budapester Gefängnisses Márianosztra, und damit in eben jenem Gefängnis, in dem István Eörsi zwischen 1956 und 1960 wegen seiner Beteiligung am Ungarnaufstand einsaß. Eörsi hat im Gefängnis ein Stück geschrieben, in dem er die Erfahrungen aus der Zeit in der Haft nach der so genannten Konterrevolution verarbeitet – es heißt „Das Verhör“ und wurde 1984, zwanzig Jahre nach seiner Niederschrift, in Berlin uraufgeführt. „Sein Gefängnisstück hat ihn kaputtgemacht …“, heißt es einmal über Borsi: Verhandlungen mit Zensoren, mit Dramaturginnen, mit Ministern, deren scheinbares Entgegenkommen, der eigene Widerstand, schließlich der Versuch, das Manuskript in den Westen zu schmuggeln, die Beharrlichkeit und immer wieder die drohende Resignation.

Der Roman erzählt diese jahrzehntelange Geschichte mit Hilfe eines Kunstgriffs: Eine junge Ungarin, die im Exil in England lebt, Erzsébet Pallagi, möchte ein Interview mit Borsi führen und spürt diesen auf seiner Insel auf. Diese kleine Öffnung in seinem geschlossenen Inselraum soll dem zurückgezogen lebenden Autor die neuerliche Auseinandersetzung mit seinem Stück ermöglichen – und damit diejenige mit seiner Biografie in den Jahren zwischen der Entlassung aus dem Gefängnis 1960 und kurz vor der Wende 1989. Für Erzsébet soll es der journalistische Durchbruch sein, aber auch für Borsi bedeutet das Interview eine Chance: Er kann Erzsébet seine Geschichte neu erzählen, sie über Strecken erfinden und anders zusammensetzen. So wird der geschlossene Raum der Insel auch zum kommunikativen und literarischen Raum.

Borsis Geschichte ist nun eine Geschichte der ständigen Reibung: Borsi ist unbequem, und zwar für jeden, der sich ihm gegenüber findet. Für seine Kollegen, die leichter als er verstanden haben, sich mit der Diktatur zu arrangieren; für seine Familie, die unter seiner Unbeugsamkeit ebenso wie unter seiner Egomanie zu leiden hatte; für die Frauen, die er unglücklich gemacht hat; für Erzsébet, der er mit seinen Geschichten auf die Nerven geht; nicht zuletzt aber für sich selbst, der sich immer wieder selbst im Wege steht. Wenn der Schriftsteller Mátrai deshalb zu Erzsébet sagt, Borsi sei „als Freund großartig, als Schriftsteller mittelmäßig, als Mann grauenhaft“, dann ist diese Beschreibung charakteristisch für die ironische Distanz, mit der István Eörsi seine Figur betrachtet.

Diese Distanz zeichnet auf der anderen Seite aber auch Borsis eigene Perspektive auf die Zustände in jenen Verhältnissen aus, die man im Westen gern euphemistisch als „Gulaschkommunismus“ bezeichnet hat. Von seiner Insel aus kann er diese Verhältnisse beobachten, analysieren und reflektieren. Die Figur des Borsi aus den Jahren vor der politischen Wende gleicht dadurch bereits der Rolle von István Eörsi in den Jahren danach, in denen er den ungarischen Kapitalismus ebenso scharf kritisierte wie zuvor den Kommunismus: Die Rolle ist, bei aller Zwiespältigkeit, diejenige einer moralischen Instanz. ANNE KRAUME

István Eörsi: „Im geschlossenen Raum“. Aus dem Ungarischen von Heinrich Esterer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 323 Seiten, 22,80 €