: Zwei Kilo digitaler Kunst
KOMPENDIUM ZUR COMPUTERKUNST Wolf Lieser hat einen Reiseführer durch die Welt des virtuellen Designs verfasst. Er öffnet die Tür zu einer Welt, in der Kreativität nicht mit dem Bedienen von Grafikprogrammen verwechselt wird
■ geboren 1957, entdeckte 1987 am Strand von Florida die digitale Kunst. Der US-Künstler Laurence Gartel zeigte ihm seine am Commodore-Computer erstellten und per Farbdrucker ausgegebenen Grafiken. Lieser erwarb eine – und ward fortan dieser jungen, technisch wie gesellschaftlich ambitionierten Kunstform verfallen. Er gründete 1998 das Digital Art Museum (DAM) als reine Online-Galerie, eröffnete in London 1999 eine der ersten Galerien für digitale Kunst weltweit und betreibt seit 2003 das DAM im Galerienbezirk Berlin-Mitte. 2010 kam eine Dependance in Köln hinzu. Seit 2005 vergibt er alle zwei Jahre – erst unter Schirmherrschaft des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, zuletzt unter der des Regierenden Bürgermeisters von Berlin – den d.velop digital art awart (ddaa) für herausragende künstlerische Leistungen der Digital Art. 2010 erhielt ihn die feministische Medienkunstpionierin Lynn Hershman Leeson.
VON TOM MUSTROPH
So ein Buch fehlte bislang. Zumindest im deutschsprachigen Raum. Wolf Lieser, ein leidenschaftlicher Digitalkunst-Liebhaber und als ein solcher Betreiber des Digital Art Museum in Berlin, hat die Geschichte von fast fünf Jahrzehnten digitaler Kunst zwischen zwei silbrig glitzernde Buchdeckel gepresst. Mit seinem zwei Kilo schweren Werk „Digital Art. Neue Wege in der Kunst“, dem eine federleichte DVD beiliegt, eröffnet er den Zugang zu einer Welt, die gedanklich oft radikaler als die parallele Kunstwelt ist und in der Kreativität nicht mit der virtuosen Bedienung von Grafikprogrammen und Twitteraccounts verwechselt wird, wie sie das Kennzeichen der Kreativwirtschaft ist.
Vielmehr erzählt Lieser die Geschichte von Männern – und einigen Frauen –, die ihren Ehrgeiz daransetzten, über die Grenzen dieser Instrumente hinauszugehen. Die Pioniere dieser Kunstform waren daher Personen, die profane Werkzeuge zweckentfremdeten und dem Reich des freien Spiels übergaben. Am schönsten hat diesen Anspruch wohl die japanische Avantgarde-Gruppe CTG (Computer Technique Group) formuliert: „Wir werden den anziehenden transzendentalen Charme des Computers zähmen und ihn daran hindern, der etablierten Macht zu dienen. Diese Haltung ist der Weg, um die komplizierten Probleme in der maschinellen Gesellschaft zu lösen“, schrieb CTG 1966.
Filigrane Kompositionen
Als künstlerische Produktionen entstand etwa die Silhouette eines laufenden Mannes, die sich in eine Cola-Flasche und dann in den afrikanischen Kontinent verwandelt. „Running Cola is Africa“ lautet die Botschaft. Parallel entwarfen im Deutschland der 60er Jahre Frieder Nake und Georg Nees Algorithmen, nach denen die gerade auf den Markt gekommenen Plotter feine Schraffuren und Gitternetze auf das Papier warfen.
Nees experimentierte auch mit labyrinthischen Verzweigungen von Würfeln. Sein US-Kollege A. Michael Noll ließ durch Zufallsprozesse einen vierdimensionalen Hyperwürfel rotieren, sich ausdehnen und seine Oberflächen verändern. Auch Vera Molnar, die Grande Dame der Computerkunst, entwarf bereits damals mit Hilfe des Computers ihre filigranen Kompositionen.
Einen anderen Weg, nämlich die Nachahmung des Analogen und Realen mit den Mitteln des Digitalen, probierten ebenfalls Mitte der 60er Jahre zwei Programmierer der Bell Laboratories. Sie ordneten in ihrem Computer die Symbole für elektronische Bauteile in einer solchen Art und Weise, dass sie sich – aus einer gewissen Entfernung – zu einem weiblichen Akt fügten. Ihr Werk „Studies in Perception“, 1967 immerhin in der New York Times abgedruckt, ist nicht das Urbild der heute weit verbreiteten Internetpornografie, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. Vielmehr stellt die Arbeit den Gründungsakt aller heutigen Avatare dar – menschenähnlicher Wesen, die aus nichts anderem als Nullen und Einsen bestehen und die digitalen (Teil-)Persönlichkeiten realer Menschen im digitalen Universum darstellen.
Lieser weist in seiner Definition digitaler Kunst auf den kategorialen Unterschied zwischen im Computer erzeugter Kunst und lediglich digital bearbeiteter und am Bildschirm ausgegebener analoger Ware hin. Wegen des technischen Charakters der Produktion von digitaler Kunst sieht Lieser sogar eine neue Renaissance heraufziehen. Damals sei Leonardo da Vinci auch Erfinder, Michelangelo auch Ingenieur und Galileo Galilei auch Künstler gewesen.
Dass da ein faszinierender Zusammenhang bestehen könnte, zeigt auch die in den 90er Jahren entstandene Netzkunst. Das Künstlerpaar jodi.org programmierte Websites, die sich in grafische Bestandteile auflösten. Auch Mark Napier wurde mit dem „Shreddern“ von Websites bekannt. Eva und Franco Mathes entwarfen für die Kunstbiennale Venedig des Jahres 2001 einen Virus, der sich – per Pressemitteilung angekündigt – vom slowenischen Pavillon aus in die Welt verbreitete und die Botschaft verkündete: „Dies ist eine Form von Kunst, die dich findet. Du brauchst nicht ins Museum zu gehen, um sie zu sehen. Das Kunstwerk selber wird dich zu Hause erreichen.“
Radikaler noch ging das Künstlerkollektiv Etoy.Corporation voran. Es „entführte“ User, die über Suchmaschinen nach Porsche, Penthouse oder Lifestyle suchten, auf von ihnen programmierte Websites. Die Gruppe Rtmark wiederum kreierte Websites von multinationalen Unternehmen sowie hochrangigen Politikern, die sich grafisch am Original orientieren, jedoch ansonsten gern unterdrückte Informationen zu Skandalen, Vergehen und Verbrechen enthalten. Mit der derzeit mächtigsten Firma im Netz legt sich die Gruppe Ubermorgen.com an. Im Rahmen von „Google will eat itself“ stellen Projektteilnehmer Google Platz für Werbebanner auf ihren Websites zur Verfügung. Die von Google ab einer bestimmten Anzahl von Clicks auf die Werbebanner gezahlten Gelder fließen auf ein Konto, von dem aus Google-Aktien erworben werden. Die Aktien werden an Internetnutzer verteilt. Diese Art der Vergesellschaftung von Google würde allerdings 202 Millionen Jahre dauern, hat Ubermorgen.com errechnet.
Diese Erfahrung zeigt: Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums lässt sich nicht komplett in den digitalen Raum verlagern, selbst wenn dies eine elegante Lösung wäre. Wolf Liesers Reiseführer durch die Welt der digitalen Kunst ruft aber die Potentiale dieses Universalwerkzeugkastens wieder in Erinnerung.
■ Wolf Lieser: „Digital Art. Neue Wege in der Kunst“. h. f. ullmann, Potsdam 2010, 276 S., 39,95 Euro)