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Das Loch in der Gartenmauer

DEMASKIERUNG Vom Zerbrechen klassischer Ideale der Familie erzählen die Filme des japanischen Regisseurs Noboru Nakamura (Forum)

Die Tonlage der Filme ist melodramatisch, alle drei teilen das Motiv der leidenden Frau

VON LUKAS FOERSTER

Die junge, hoffnungsvolle Malerin Tomoko hat ein ideales Motiv entdeckt: Ein vermutlich im Zweiten Weltkrieg entstandenes Loch in der Gartenmauer gibt eine pittoreske Ansicht des Nachbarhauses frei. Sie hält diese gerade noch rechtzeitig auf ihrer Leinwand fest, bevor der Hausbesitzer die Lücke wieder zunagelt. „Macht nichts, ich habe jetzt ja die Erinnerung“, meint Tomoko.

Diese schöne Metapher dafür, dass sich Kunst und Wirklichkeit beständig verfehlen, findet sich in „Home Sweet Home“, einem japanischen Film von 1951. Der wiederum ist Teil einer der schönsten Traditionen der Berlinale: Jahr für Jahr präsentiert das Forum einen Ausschnitt aus dem Werk eines Regisseurs des klassischen japanischen Kinos. Manchmal, wie im Fall von Keisuke Kinoshita im letzten Jahr, sind diese Filmemacher in Europa wenigstens gerüchteweise bekannt. Der dieses Jahr wiederentdeckte Noboru Nakamura jedoch dürfte außerhalb Japans kaum jemandem mehr ein Begriff sein.

Nakamura war ein klassischer Studioregisseur, der von den 1950ern bis in die 1970er hauptsächlich für die Shochiku, die wichtigste Produktionsgesellschaft der japanischen Filmgeschichte, drehte. Er war einst durchaus auf europäischen Festivals präsent, derzeit aber ist kein einziger seiner gut zwei Dutzend Filme untertitelt verfügbar. Es fällt also schwer, zu sagen, wie repräsentativ die drei Filme, die das Forum von neu gezogenen und wieder einmal ganz wundervoll aussehenden 35-mm-Kopien zeigt, für Nakamuras Gesamtwerk sind. Für sich selbst ergibt die Konstellation des Trios jedenfalls Sinn; die Filme bieten nicht nur einen aufschlussreichen Querschnitt durch die ersten zwei Jahrzehnte des Nachkriegsjapan, sondern haben auch zentrale Motive gemeinsam; vor allem das der leidenden Frau.

Die Tonlage der Filme ist melodramatisch; im Kern erzählen alle drei vom Auseinanderbrechen der Familie, vielleicht auch der Gesellschaft. „Home Sweet Home“, der älteste der Auswahl, geht zwar noch von einer Familiengeschichte aus, deren Figuren auch einem minimalistischen Alltagsdrama des Shochiku-Großmeisters Yasujiro Ozu entstammen könnten; Nakamura punktiert seinen um eine Mutter-Tochter-Beziehung herumgebauten Film mithilfe anschwellender Geigenmusik und expressiver Kamerafahrten. Er rückt die Alltagsarmut, die Pfützen auf ungeteerten Straßen, die bescheidenen Wohnverhältnisse, die den japanischen Alltag der 1950er prägten, deutlich ins Bild. Überhaupt sind die Filme schon als Einblick in die Lebenswelt einer sich mit enormer Geschwindigkeit modernisierenden Gesellschaft unschätzbar wertvoll.

Die beiden späteren Filme entfernen sich deutlich von der elegischen Klassik Ozu’scher Prägung. In „When It Rains It Pours“ (1956) und dem grandios fotografierten Farbfilm „The Shape of Night“ (1964; ein Film wie Neonlichter, die man durch einen Tränenschleier hindurch betrachtet) wird der Generationenvertrag aufgekündigt, die Töchter werden in die raue Welt entlassen.

Vom Schicksal überrollt

Man kann diese drei Töchter der Nakamura-Filme in eine Reihe bringen: unverheiratete Tochter mit künstlerischen Ambitionen, ausgehaltene Geliebte eines verheirateten Mannes, Prostituierte; die Stimmung wird entsprechend düsterer, „The Shape of Night“ vor allem ist ein einziges Martyrium.

Die Mütter bleiben bei allen Hoffnungen, die sie in ihre Töchter setzten, der Tradition verhaftet, treten von Film zu Film mehr in den Hintergrund, die Väter sind von Anfang an bestenfalls Clowns, schlimmstenfalls tumbe Kleinbürger ohne Sinn für persönliche Freiheit. Gemeinsam betrachtet, wirken die Filme wie eine schrittweise Demaskierung klassischer Ideale von weiblicher Tugend und von Familienideologien, wie sie nicht nur – aber dort mit besonderer Vehemenz – in Japan wider alle gesellschaftliche Empirie gepredigt wurden und teils immer noch werden.

Freilich bleiben solche kritischen Einsätze implizit. Zuerst wollen die Filme als Gefühlskino, im affektiven Nachvollzug von Isolation funktionieren. Das gelingt vor allem dem meisterlichen Mittelstück der Reihe auf erstaunliche Weise: „When It Rains, It Pours“ braucht nicht mehr die noch recht plumpen Großaufnahmen aus „Home Sweet Home“; die Tragik vermittelt sich über Vorgefundenes, über Motive wie eine fluchartig wiederkehrende Leuchtreklame oder eine nahe vorbeifahrende Eisenbahn. Eisenbahnen tauchen auch oft bei Ozu auf, bezeichnen da aber gerade das fahrplanmäßig Gleichbleibende des Alltags. Bei Nakamura dagegen zeigt irgendwann schon das bloße rhythmische Schnaufen der Lok auf der Tonspur an, wie die Figuren vom Schicksal überrollt, ja plattgemacht werden.

■ „When It Rains, It Pours“: 8. 2., Kino Arsenal, 22.30 Uhr; „Home Sweet Home“: heute, Kino Arsenal, 22.30 Uhr, 14. 2., Delphi Filmpalast, 14 Uhr; „The Shape of Night“: 9. 2., Kino Arsenal 1, 22.30 Uhr; 16. 2., Delphi Filmpalast, 14 Uhr

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