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Archiv-Artikel

Abgedankte Königin

PHANTOMSCHMERZ Lübeck sucht immer noch nach einem angemessenen Verhältnis zu seinem verlorenem Glanz als Zentrum der Hanse. Daraus entstanden ist fürs Erste ein Mix aus Tourismus-Attraktionen und diffus tradierten Kaufmanns-Tugenden

VON PETRA SCHELLEN

„Königin der Hanse“ wurde Lübeck eigentlich per Zufall. Denn die Stadt an der Trave lag quasi auf halbem Weg zwischen den Hansekontoren Nowgorod, Brügge, London und Bergen. Außerdem nah an der wichtigen Handelsroute Ostsee. Von heute aus gesehen war die Königinnen-Kür allerdings eine Art Zonenrandförderung. Denn mit einst 14.000 Einwohnern war Lübeck auch vor 600 Jahren eine relativ kleine Stadt.

Aber sie hatte wirtschaftspolitische Macht: Lübeck richtete die meisten Hansetage aus, prägte das für die Hanse gültige Lübische Recht und baute rund 200 Jahre lang Wohlstand aus; das zurückgelassene architektonische „Weltkulturerbe“ zeugt davon. Doch spätestens seit dem letzten Hansetag 1669 war das vorbei: Die Handelsrouten änderten sich, Lübeck verarmte, wurde Peripherie.

Übrig blieb, neben der Backsteinpracht, die Vokabel „Hanse“. Die trägt man immer noch gern im Namen, jede öffentliche Rede beschwört sie. Da wäre es arg verwunderlich, wenn das Mantra nicht auf die Bewohner wirkte. Wie steht es also um Lübecks Hanseatenstolz?

Nun ja, es gibt ihn – und auch wieder nicht, finden die Lübecker. Spricht man sie darauf an, leugnen sie nämlich zunächst heftig. Trauer? Phantomschmerz gar, weil der Glanz verging? Fehlanzeige, da erklären Kauf-, Kultur-, und Kirchenleute lieber sehr vernünftig, das sei längst Geschichte. Minuten später geraten sie dann doch ins Schwärmen: von der pittoresken Altstadt und von der Aura, die der Name „Lübeck“ habe. „Das klingt einfach anders als Husum“, sagt der Pastor der St.-Aegidien-Kirche, Thomas Baltrock.

Er ist eigentlich ein Querdenker, der Sentimentalitäten weit von sich weist. Im Gespräch umkreist er das Thema zunächst weiträumig, aber irgendwann bricht es aus ihm heraus: dass Lübeck etwas Besonderes und ein echter Mythos sei. Jetzt klingt er fast pathetisch, und das nimmt er nicht zurück – ein Mann, ein Wort. Gut hanseatisch.

Und die Kaufleute? Trauer über den Verlust des Glanzes fühle er zwar nicht, sagt der alt eingesessene Unternehmer Jochen Brüggen, aber das hansische Ethos – Weltoffenheit, internationale Kooperation, Berechenbarkeit – gefalle ihm. „Ich habe das Gefühl, dass aus der Beschwörung dieser Tugenden ein moralischer Appell erwächst.“

Aber das ist nur die eine Seite des Mythos Hanse. Denn erstens sind besagte Tugenden ja kein Lübecker Privileg. Zweitens galt das Fairness-Ethos vor allem innerhalb der Hanse. „Ganz so lauter und edel war die Hanse ja nicht“, sagt Renate Menken, Vorsitzende der Possehl-Stiftung, die in Lübeck Vieles bewegt. „Die Hanse war auch ein sehr kriegerisches Unterfangen.“ Das zum Beispiel die schwedische Ex-Hansestadt Visby zerstörte, als sie zu stark und aufmüpfig wurde. Das bis heute existierende Ehrenamt und Bürgerengagement wiederum – das finde sie schon hanseatisch, sagt Menken. Darauf sei sie stolz.

Es klingt ein bisschen nach Hassliebe, was die Lübecker über ihre Vergangenheit sagen – wie ein Kind, das sich die Liebe zur Mutter verbietet, weil es viel zu rational und kritisch ist dafür. Und weil sie vor lauter Ambivalenz nicht wissen, was sie mit ihrem Hanse-Erbe tun sollen, haben sie es in die Tourismus-Schublade gesteckt. In die Sonntagsreden beziehungsweise, so Menken, „ins Ornamentale“. Da kann es nicht gefährlich werden.

Und man kann so lustige Dinge feiern wie den „Hansetag“: Organisator des jährlichen Spektakels ist der 1980 gegründete Kulturverein Neue Hanse. Beitreten kann jede Stadt, die sich „hansisch zugewandt“ fühlt; 181 Mitglieder sind es schon. Vormann ist der Bürgermeister von Lübeck, das auch den diesjährigen Hansetag ausrichtet. Und natürlich tobt dann das „Hansevolk“ in Gestalt hansischer Kaufleute und eines Pestzuges durch die Gassen. „Wir tun das aus purer Lust am Verkleiden“, sagt Angelika Schildmeier vom Hansevolk-Verein. „Nicht aus Nostalgie.“

Mit diesem Volksfest fährt der Verein Neue Hanse ganz gut; die Hansetage sind bis 2035 ausgebucht, und Lübeck hofft auf 750.000 Besucher. Aber so perfekt das Hanse-Marketing auch funktioniert: Ein Indiz für Wehmut ist das ganz sicher nicht, es bleibt beim Re-Enactment.

Das 2015 zu eröffnende Hanse-Museum ist vielleicht zum Teil eine klassische kompensatorische Tat; immerhin wird es alle Facetten der Hanse zeigen. Trotzdem soll auch dieses Projekt vor allem als Tourismus-Motor dienen. Denn das Museum gilt als lang vermisste Image-Pflichtübung, und nur wenige glauben, dass der Hanse-Ballast dann auch ideell endlich ins Museum kommt.

Und was das Haus schon gar nicht leisten kann: Lübecks wahren Phantomschmerz lindern – den Verlust der Eigenstaatlichkeit 1937. „Damals verlor Lübeck seine Funktionseliten“, sagt Historiker Manfred Eickhölter, „und das schmerzt bis heute: dass Lübecks Archivar nicht auf Augenhöhe mit einer Bundesbehörde verhandeln kann.“ Dass man als die Provinz behandelt wird, die man eigentlich ist.

„Lübeck ist heute – auf sympathische Art – nicht provinziell, aber doch regional aufgestellt“, bestätigt Unternehmer Brüggen. Er sagt das fast nachsichtig. Da ist sie wieder, die sacht enttäuschte Liebe zur Königin der Hanse.