: Die Angst, entdeckt zu werden
Man nennt sie „die Illegalen“: bis zu eine Million Menschen leben in Deutschland ohne gültige Ausweis-Papiere oder Aufenthaltsrecht. Der Fernseh-Journalist Hauke Wendler hat ein Jahr lang recherchiert, um sie aufzuspüren. Heute strahlt der NDR seinen Film „Abgetaucht“ aus
Interview: MARKUS FLOHR
taz: Herr Wendler, wie finden Sie Menschen, die von der Polizei gesucht werden?
Hauke Wendler: Die Polizei könnte illegale Einwanderer jederzeit finden. Sie sucht aber nicht gezielt nach ihnen. Es sei denn, sie organisiert eine ihrer groß angelegten Razzien und lädt die Presse dazu ein. Ich habe Kontakt zu Menschen aufgenommen, die ihnen Hilfe anbieten. In Hamburg-Altona gibt es zum Beispiel eine medizinische Beratungsstelle. Da kann man ohne Pass hingehen und eine Behandlung bekommen, wenn ein Zahn gezogen werden muss oder eine Frau ein Kind erwartet.
Gefährden Sie die Arbeit der Beratungsstelle und die Papierlosen selbst mit einem solchen Film?
Die Helfer haben lange überlegt, ob sie mit uns zusammen arbeiten. Am Ende haben sie sich gedacht: Wir machen diesen Job seit sehr vielen Jahren. Die Stadt kann sich freuen, dass es uns gibt. Es ist für sie die billigste Lösung und sie kann den Schein wahren, dass man an der Abschiebe-Doktrin festhält. Das Thema muss endlich in die Öffentlichkeit.
Wie haben Sie Kontakt zu den Papierlosen aufgenommen?
Ich bin nicht gleich nach Hause eingeladen worden. Zuerst bekam ich einen Ort und eine Zeit gesagt: Der Eingang zu einem großen Einkaufszentrum, ein Tisch im Schnellrestaurant, im Café oder so. Die Treffen haben immer Mittler organisiert, die mit uns und den Papierlosen Kontakt gehalten haben. Das ging manchmal über drei, vier oder sogar fünf Personen.
Wie sind die Treffen abgelaufen?
Die meisten sprachen nach einer Weile gerne mit uns. Sie mussten erst mal Vertrauen fassen. Die Bulgarin Swetla in unserem Film fragte ihre Dolmetscherin, bevor sie anfing, ernsthaft mit uns sprechen: „Warum machen diese Menschen diesen Film? Was wollen die?“ Die Übersetzerin sagte: „Sie wollen, dass bekannt wird, wie du leben musst. Sie wollen, dass es besser wird.“ Swetla antwortete, sie glaube nicht, dass wir etwas an ihrer Lage ändern können, aber dass sie trotzdem erzählen will. Ich hatte das Gefühl, dass es für viele eine Erleichterung war, mit uns darüber reden zu können, was sie hier täglich erleben.
Wann kam die Kamera dazu?
Wir mussten die ganze Zeit sehr vorsichtig filmen, jeden Schritt, jeden Dreh genau überlegen. Außerhalb der Wohnungen haben wir nur mit kleinen Digitalkameras gedreht, um kein Aufsehen zu erregen. Wir haben so getan, als würden wir ein Urlaubsvideo machen.
Sind Sie aufgeflogen?
Nein. Aber während der gesamten Dreharbeiten bin ich manchmal morgens aufgewacht und habe gedacht: Stell dir vor, heute nehme ich Swetla im Auto mit, und wir haben einen Unfall. Dann müssen wir die Polizei rufen oder jemand anderes tut es. Dann fliegt sie auf, wird abgeschoben und ich bin schuld daran. Eine grauenvolle Vorstellung.
Was sind die größten Probleme der Papierlosen?
Sie kämpfen damit, ihren Alltag zu organisieren. Was für uns normal ist, wird für sie zur täglichen Tortour, da alles geheim, informell, mehr oder weniger im Verborgenen geregelt werden muss. In Schwierigkeiten geraten sie am Häufigsten, wenn der deutsche Arbeitgeber sie um ihren Lohn prellt, wenn die Kinder zur Schule wollen, wenn der Vermieter einfach die Miete erhöht, weil er weiß, dass sie sich nicht wehren können. Oder wenn sie einen Arzt brauchen. Sie haben kaum Geld, sie arbeiten schwarz und für sehr niedrige Löhne, um überhaupt etwas zu haben. Sie können ja keinen Cent von den Behörden bekommen. Sie leben mit der ständigen Angst, entdeckt zu werden. Sie leben mit einem komischen Gefühl, weit weg von der Heimat und den Freunden zu sein, und sich gleichzeitig aus ihren schmalen inoffiziellen Wegen nicht herausbewegen zu dürfen.
Wie schaffen sie es überhaupt zu überleben?
Sie bewegen sich in einem engen Geflecht, einem Netzwerk von Menschen, die sich gegenseitig inoffiziell über die Runden helfen. Oft besteht es aus anderen Migranten aus dem gleichen Land oder Erdteil, die schon früher nach Deutschland gekommen sind. Man darf sich das aber nicht zu romantisch vorstellen: Diese Netzwerke sind für die Papierlosen schlicht die einzige Möglichkeit, zu überleben. Mit der Mehrheit der Deutschen kommen die Papierlosen nicht in Kontakt. Sie sind dazu gezwungen, zu Überlebenskünstlern zu werden. Durch das gegenseitige Vertrauen und Wissen übereinander wird ein Papierloser aber auch leicht zum Opfer von Erpressung.
Welche Art von Erpressung?
Es kommt vor, dass ein Migrant, der gültige Papiere hat, einen Bekannten ohne Papiere droht, ihn anzuzeigen – es sei denn, er zahlt. Oder er fordert immer höhere Geldbeträge für die Hilfe. Es gibt auch indirekte Erpressung: Michael bei uns im Film lebt seit zwölf Jahren nur in seinem Netzwerk. Er fühlt sich darin gefangen, es gibt kein Vor und kein Zurück. Morgens geht er zu seinem Job in einem teuren Restaurant in der Hamburger Innenstadt. Den hat ihm ein Bekannter vermittelt. Die Chefin weiß über Michael Bescheid. Aber sie unternimmt nichts, nichts für ihn und nichts gegen ihn. Denn sie weiß auch: Sie kann niemandem so wenig Geld für so harte Arbeit zahlen wie Michael. Er hält das nur aus, weil er sich schon lange keine Gedanken mehr macht über seine Ziele, über seine Wünsche. Er hält es aus, weil er seine Träume verdrängt, einfach weil ihn die Bewältigung seines Alltags alle Kraft kostet.
Im Film kommen einige Menschen vor, die Kontakt zu den Papierlosen haben und ihnen helfen, eine Ärztin zum Beispiel. Machen sich diese Menschen strafbar, weil sie die Papierlosen nicht melden?
Schulen, Krankenhäuser und viele öffentliche Einrichtungen haben eine Meldepflicht, ja. In unserem Film kommen aber mehrere Ãrzte vor, die ihre Patienten nicht melden. Für jeden Arzt ist es eine Frage der Abwägung, ob er einen Papierlosen behandelt. Sie alle haben einen Eid geschworen, jedem kranken Menschen zu helfen. Eine Zahnärztin bei uns im Film sagt: Ich glaube nicht, dass mich jemand vor Gericht stellt, weil ich einem Menschen mit Schmerzen geholfen habe. Alle anderen Menschen haben keine Meldepflicht und müssen nichts fürchten, wenn sie Papierlose kennen oder ihnen helfen, es sei denn sie machen das gewerbsmäßig. Ich empfinde es als eine Verpflichtung, diesen Menschen zu helfen.
Tun Sie das mit dieser Dokumentation?
Sie soll vor allem Leute wachrütteln, die noch nie etwas von den Problemen dieser illegalen Einwanderer gehört haben. Ein paar Zahlen, ein paar Meldungen von der Polizei – das kann man leicht ignorieren. Aber im Film sieht man das achtjährige Mädchen jeden Tag auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen, wie sie deutsche Zeichentrickserien schaut, obwohl sie eigentlich zur Schule will. Sie darf nicht vor die Tür, weil vormittags niemand auf dem Spielplatz spielt. Das würde auffallen, das geht nicht. Und dieses Mädchen kannst du nicht mehr ignorieren. Ich zumindest nicht.
„Abgetaucht – Illegal in Deutschland“ läuft heute um 23 Uhr auf NDR