: Nestbeschmutzer
Leichthändig, nicht leichtfertig erzählt Jeanette Wagner in ihrem Debütfilm „Liebeskind“ (22.45 Uhr, ZDF) die Geschichte einer verbotenen Liebe
VON CHRISTIAN BUSS
Nähe kann gefährlich sein, wenn man keine Übung mit ihr hat. Alma und Fred sind beide unbeleckt in Sachen Nestwärme. Sie ist 17 und bei ihrer allein erziehenden Mutter aufgewachsen, er ist knapp dreimal so alt und als Angestellter von „Ärzte ohne Grenzen“ weit in der Welt herumgekommen. Alma und Fred sind Tochter und Vater. Das sieht man den beiden allerdings nicht an, da ihnen der mild-neurotische Umgangston der familiären Gewöhnung fehlt.
Als der Alte nach langem Auslandsaufenthalt nach Berlin zurückkommt, stürmt die Junge zornig seine Praxis. Doch hinter der Wut schimmert bei Alma die Sehnsucht nach einem Vater durch, und trotz Freds Zurückhaltung wird schnell deutlich, dass er seine versäumten Familienpflichten durch eine späte Hinwendung wiedergutmachen möchte. Also versuchen die beiden eine Vater-Kind-Beziehung aufzubauen. Doch die ersehnte Vertrautheit birgt für die Sozialamateure Tücken: Wo verläuft die Grenze zwischen innerfamiliärer Zärtlichkeit und unverhältnismäßiger Körperlichkeit?
„Liebeskind“ ist ein Inzestdrama. Doch zum Glück fehlt dem Film jegliche tabubrecherische Anmaßung, die ansonsten oft in diesem Genre zu finden ist. Gelegentlich gerät das Kammerspiel zwar leicht aus dem Takt, dafür bannt Regisseurin Jeanette Wagner in den besten Momenten ihres Debüts die gesamte Widersprüchlichkeit der riskanten Beziehung in eine einzige kurze Szene. Da sieht man Alma und Fred etwa gemeinsam Pilze im Wald sammeln: Sie springt ihn von hinten an, um sich tochtergemäß huckepack tragen zu lassen, und stupst dabei glücklich mit der Nase an seinen Hals. Was riecht das Mädchen – den lange vermissten Geruch der Geborgenheit oder den Duft ihres zukünftigen Liebhabers?
Es sind solche Momente, in denen Wagner leichthändig, aber niemals leichtfertig von der verbotenen Nähe erzählt, die sie als inspirierte Schülerin des europäischen Autorenkinos ausweisen. Man fühlt sich ein bisschen an Bertoluccis „La Luna“ erinnert, in dem eine Opernsängerin die einst versagte Mutterliebe in einer inzestuösen Beziehung zu kompensieren versucht. Und ein bisschen mehr noch an Malles Ödipusdrama „Herzflimmern“, in dem ein Junge im Beischlaf mit seiner Mutter die lange ersehnte sexuelle Initiation erfährt.
Wie diese verwandten Filme ist auch „Liebeskind“ frei von schnellen Verurteilungen. Was nicht heißt, dass sich die Geschichte in einem moralfreien Raum abspielt. Bei aller Sympathie für Fred (schlaksig-abgründig: Lutz Blochberger) bleibt dem Zuschauer nichts anderes übrig, als in dem Schluffi einen elenden Verdrücker zu erkennen, dem angesichts des sich anbahnenden Inzestdramas nichts Besseres einfällt, als sich für das nächste Aids-Präventionsprogramm weit weg von der Heimat samt deren psychosozialen Verstrickungen anwerben zu lassen.
Aber Regisseurin Wagner ist eben auch mutig genug, der halbwüchsigen Tochter Alma eine psychologische Autonomie zuzugestehen. Am Anfang sieht man sie bei einem Casting lustige und traurige Gesichter aufsetzen. Meist wirkt die 17-Jährige, als arbeitete sie mit Gesten und Zeichen, deren Wirkung sich ihr gerade erst erschließen. Anna Fischer spielt das toll, mit einer Mixtur aus Entdeckerstolz und Verletzlichkeit, und wurde dafür auf dem Max-Ophüls-Festival als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet. Hoffentlich schauen wir noch oft in dieses Gesicht, in dem Naivität und Tiefe einen aufreibenden Wettkampf austragen.