Nahöstliche Regression

Israel benutzt den islamistischen Terrorismus als Alibi für seine präventive Kriegführung. Dagegen sollten auch deutsche Politiker und Intellektuelle deutlicher Stellung beziehen

Trotz aller Rhetorik: Der islamistische Terror stellt für Israel keine existenzielle Bedrohung dar Die Deutschen wissen heute alles über den Holocaust, aber viel zu wenig über den Nahostkonflikt

Wer vor einiger Zeit noch glaubte, die Fähigkeit der deutschen Politik und Gesellschaft zu Kritik an Israel sei gewachsen, der sieht sich in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Nach einem vergleichsweise harmlosen Grenzübergriff der Hisbollah beginnt Israel einen Krieg, in dem es zehnmal so viele Menschen tötet wie seine Gegner, und weder die Bundesregierung noch weite Teile der intellektuellen Eliten trauen sich, Israel zu einem sofortigen und bedingungslosen Waffenstillstand aufzurufen.

Während die französische Regierung im Nachbarland etwa die als Vergeltungsschlag getarnte präventive Kriegführung Israels offen kritisiert, ist es geradezu atemberaubend, wie es die überlegende Militärmacht Israel in Deutschland immer wieder schafft, sich als in seiner Existenz gefährdeter Staat zu präsentieren, den man in seinem Überlebenskampf gewähren lassen muss, auch wenn er dabei zu radikalsten Mittel greift. Schuld an dieser deutschen Selbstlähmung ist nicht nur eine geradezu absurd angepasste Nahostpolitik der Kanzlerin Merkel und ihres profillosen Außenministers, sondern auch ein selektives Geschichtsbewusstsein weiter Teile der deutschen Eliten, die alles über den Holocaust, aber viel zu wenig über den Nahostkonflikt wissen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die USA den schnellen Abschluss eines Waffenstillstandes verzögern. Der damalige Sicherheitsberater der US-Regierung, Henry Kissinger, brüstete sich nach dem Sechstagekrieg von 1967 in seinen Memoiren ganz offen, wie er das Ende der Kampfhandlungen hinauszögerte, um es Israel zu ermöglichen, bis vor Kairo vorzurücken. Während der zwölf Jahre, die Ägypten benötigte, um seine Territorien in Verhandlungen von Israel zurückzuerhalten, besiedelte Israel das palästinensische Westjordanland. Viele Handlungsmuster Israels lassen sich als Verzögerungsstrategie verstehen, um das 1967 in einem Angriffskrieg eroberte Westjordanland langfristig zu behalten.

Im Jahr 1967 befürworteten selbst viele große deutsche Zeitungen die völkerrechtswidrige Annexion Jerusalems. Deutsche Politik und Öffentlichkeit waren damals noch völlig unfähig, den Nahostkonflikt mit einer anderen als der Holocaust-Brille zu sehen. Erst langsam wuchs in Deutschland die Bereitschaft, anzuerkennen, dass durch eine falsch verstandene Vergangenheitsbewältigung nur neue Schuld auf die deutsche Politik geladen wurden: die Schuld an Millionen palästinensischen Flüchtlingen und dem Tod unzähliger Zivilisten.

Nach der letzten Invasion Israels im Libanon 1982 und im Schatten der damals von Israel geduldeten Massaker an Palästinensern in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila setzte sich in Deutschland weithin die Ansicht durch, dass nicht nur die Araber Israel anerkennen mussten, sondern auch Israel einen palästinensischen Staat – eine Anerkennung, die bis heute aussteht! Doch was geschieht gegenwärtig, nach der Tötung von Zivilisten und Kindern im libanesischen Kana? Heute beziehen weder deutsche Intellektuelle noch Politiker couragiert Stellung gegen die Gewalt.

Bei aller berechtigten Kritik an Hisbollah und Hamas muss man daran erinnern, dass beide Organisationen sich erst als Reaktion auf die letzte Libanoninvasion Israels bildeten. Sie ersetzten die von Israel ins Exil vertriebene PLO und organisierten den Widerstand im besetzten Libanon. Israel hat sich diese Feinde selbst geschaffen. Eine existenzielle Bedrohung sind die Islamisten für Israel trotz aller verbalen Radikalität, die auch Unterstützerstaaten wie Iran eigen ist, nicht. Die Hisbollah schickte gelegentlich Raketen über die Grenze, während auch Israel nie damit aufhörte, Islamisten zu verfolgen und zu töten. Einmal mehr nutzt Israel den islamistischen Terrorismus nun als Alibi für eine staatsterroristische Besetzungs- und Invasionspolitik, die den gerade neu aufgebauten Libanon um Jahrzehnte zurückwirft. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Krieg im Libanon von Israel just in dem Moment begonnen wurde, als die Hamas im Rahmen der „Gefangeneninitiative“ die Bereitschaft zur Anerkennung Israels zeigte. Nach dem jetzigen Krieg wird die internationale öffentliche Meinung Israel nicht wieder so schnell mit der „Zumutung“ belästigen, mit Islamisten über einen palästinensischen Staat zu verhandeln. Der jüdische Staat muss aber lernen, auf begrenzte Sicherheitsrisiken durch Terror oder an seinen Grenzen angemessen im Sinne internationaler Maßstäbe zu reagieren. Seine historischen Ängste sind verständlich. Als außenpolitische Richtschnur taugen sie nicht.

Was aber machen inzwischen deutsche Intellektuelle? Sie singen schon wieder das Lied von den bösen Arabern und Iranern, die auch nach einer Lösung des palästinensischen Konflikts nicht in ihrem antiisraelischen Vernichtungstrieb zu bremsen seien (so Micha Brumlik in der taz vom 28. 7). Eine solche Position blendet geschichtliche Zusammenhänge bewusst aus. So gab es nach dem Friedensabkommen von Oslo im Jahre 1993 bei den Palästinensern eine überwältigende Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel, während Außenminister Schimon Peres in Casablanca seine Visionen für einen arabisch-israelischen Wirtschaftsraum vortrug. Es waren israelische Extremisten, nicht Araber, die 1995 den Premier Jitzhak Rabin ermordeten und damit die Wende im Friedensprozess einleiteten.

Man hört in diesen Tagen viele kritische deutsche Stimmen – aber sie sind viel zu leise und haben nichts von der Kraft des Jahres 1982. Eine tiefgreifende analytische Verunsicherung hat sich breitgemacht, eine fehlender Überblick über Zusammenhänge des Nahostkonflikts, was der propagandistischen Manipulation Tür und Tor öffnet.

Hinzu kommt, dass die deutsche Nahostpolitik derzeit eine geradezu infantile Rückentwicklung durchmacht, die sie Jahrzehnte vor die Zeiten von Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder zurückwirft. Seit Willy Brandt hatte die deutsche Nahostpolitik, bei aller Zurückhaltung, stets kritische Distanz zu Amerikas einseitiger Unterstützung israelischer militärischer Aggression gehalten. Heute wiederholt ein völlig farblos wirkender deutscher Außenminister ständig, man könne sich Forderungen nach einem Waffenstillstand und internationalen Friedenstruppen „nicht ganz entziehen“, und verbirgt hinter dieser Floskel, dass er im Auftrag von Angela Merkel die Rückbildung Deutschlands zu einem willenlosen außenpolitischen Satelliten der USA betreibt, der sich nicht traut, eine friedensorientierte Nahostpolitik zu vertreten. Diese Leisetreterei bedeutet aber nicht geschickte Diplomatie, sondern letztlich die Aufgabe auch der letzten moralischen Maßstäbe der Außenpolitik und die Zerstörung der Friedenschancen von morgen.

Ein sofortiger Stopp der Kampfhandlungen und die Bereitschaft der Bundeswehr, Israels Grenzen im Rahmen einer UNO-Truppe zu sichern: was wäre sinnvoller als eine deutsche Nahostpolitik, die sich auf solche Forderungen stützt? KAI HAFEZ