: Erziehung zur Attraktivität
Die Bundesliga vor dem Start (5): Borussia Mönchengladbach. Trainer Jupp Heynckes soll der Klinsi vom Niederrhein werden. Er weiß: Im Borussia-Park werden die Fans schnell zu Nörglern
Was bleibt von der WM? 120.000 Menschen pilgerten zum Familientag, dem Höhepunkt der offiziellen Saisoneröffnung von Borussia Mönchengladbach. So eine Massendemonstration kann man getrost in die Kategorie WM-Dimension einordnen. Mönchengladbach hat nur Schwarzrotgold gegen Schwarzweißgrün getauscht und feiert weiter. „Das waren ganz viele junge Frauen und Kinder, das ist ein ganz neues Fußballpublikum und verspricht eine tolle Zukunft“, sagt der neue Trainer Jupp Heynckes erstaunt und muss damit klarkommen, als eine Art Klinsmann vom Niederrhein betrachtet zu werden. Die Fans hoffen, ja sie dürsten danach, dass Heynckes bei ihrer Borussia Ähnliches bewirkt wie der Ex-Bundestrainer beim Nationalteam – die Einführung eines modernen Fußballs, der das Auge erfreut. Darauf warten sie nämlich schon lange vergeblich. „Attraktiver und erfolgreicher“ wolle er spielen lassen, sagt Heynckes denn auch brav, was bleibt ihm auch anderes übrig inmitten dieser Welt der Klinsmann-Jünger?
Wer sind die Stars? Mit Oliver Neuville und Marcell Jansen haben die Gladbacher zwei WM-Helden in ihren Reihen, und seit Neuville der Nation in der Nachspielzeit des Vorrundenspiels gegen Polen den vielleicht intensivsten WM-Moment überhaupt bescherte, ist sein Heldenstatus unumstritten. Jansen hingegen ist der Typ, dem die Teenager nacheifern und der die Teenagerinnen in Wallung bringt. Doch über all diesen steht der argentinische Nationalspieler Federico Insua: Für rund 4 Millionen Euro kam der offensive Mittelfeldspieler von den Boca Juniors Buenos Aires, er gilt als klassische Nummer 10, als Mann mit Auge für den tödlichen Pass und als Quell stetiger Torgefahr. Überzeugendere Argumente bei der Ermittlung des Starfaktors gibt es nicht.
Was macht der Trainer? Jupp Heynckes arbeitet akribisch, er feilt an Laufwegen und an der Organisation auf dem Feld. Ständig unterbricht er Trainingsspiele und bezeichnet die erste Phase der Saisonvorbereitung als „Erziehungsprozess“. Offen würde der höfliche Heynckes seinen Vorgänger Horst Köppel zwar nie kritisieren, doch wenn er sagt, „eine eingespielte Truppe wie andere Spitzenteams sind wir nicht“, bestätigt er indirekt jene Beobachter, die seit Monaten monieren, dass die Mannschaft unter Köppel eklatante taktische Mängel entwickelt habe. Um das zu ändern benötige er jedoch Zeit, sagt Heynckes bei jeder Gelegenheit, wenngleich er schon darauf vorbereitet ist, „dass demnächst Kritik kommt, wenn es nicht schnell genug geht“.
Wie sieht die Taktik aus? Eigentlich bevorzugt auch Heynckes das bei der WM zu Weltruf gelangte System mit den zwei defensiven Mittelfeldspielern vor der Abwehr. In der Vorbereitung testete er diverse Pärchen, einer der Sechser war jedoch stets Eigengewächs Eugen Polanski, der schon in der vergangenen Saison gute Ansätze zeigte. Doch mit der Verpflichtung von Insua wird die Variante mit der Doppelsechs wohl hinfällig, die flache Vier wird wieder zur Raute werden, denn Insua sei nicht der Typ, der bei gegnerischem Ballbesitz entsprechend weit zurückfallen lässt, sagt Heynckes. In der Abwehr wird eine Viererkette spielen, und in der Offensive sind Varianten mit einen, mit zwei und sogar mit drei Stürmern möglich, wenngleich ein klassisches 4-4-2 mit Raute am wahrscheinlichsten ist. In jedem Fall will der Trainer „nach vorne spielen lassen“.
Sind die Fans glücklich? Die Menge kreischte hysterisch, als Präsident Rolf Königs bei der Saisoneröffnung ins Mikrofon rief: „Wo wir hinwollen, ist ganz klar, Borussia muss nach oben, das heißt ins internationale Geschäft.“ Der Unternehmer ließ offen, ob es sich bei dieser Aussage um ein Saisonziel oder eine Zukunftsvision handelte. Solange der Traum in Form teurer Neuverpflichtungen oder namhafter Trainer Nahrung erhält, ist das Glück groß. Zuletzt zeigte sich aber, dass der Borussia-Park bei Gelegenheit erschreckend schnell zu einer grummelnden Masse von Nörglern wird.
Die Prognose: Ein Platz unter den ersten fünf wäre sensationell. In die Phalanx der Großen können die Gladbacher wohl nur vorstoßen, wenn ihnen eine wundersam reibungslose Saison gelingt, in der sich alles ineinanderfügt. Platz acht ist realistisch.
Der X-Faktor: Es gibt diese wundersamen Geschichten von den idealen Konstellationen, die mit einer unerklärlichen Leichtigkeit in den großen Erfolg münden. Vielleicht besitzt die Rückkehr von Jupp Heynckes, der in Mönchengladbach zwischen 1979 und 1987 seine erste Traineranstellung hatte, ja solch eine Zauberkraft, und das Konstrukt, das seit dem Weggang von Hans Meyer 2003 nie sein Gleichgewicht fand, ordnet sich zu einem Mosaik des unerwarteten Erfolges. Aber 17 andere Bundesligisten hoffen auch auf so ein Jahr. DANIEL THEWELEIT