: Ein Haufen rüpelhafter Filme
ARBEIT AM GENRE Heute beginnt am Potsdamer Platz das Fantasy Filmfest. Das Programm mit bemerkenswert vielen Debütarbeiten erkundet, wie gut Unterhaltungskino und filmästhetischer Anspruch zueinanderpassen
VON THOMAS GROH
Ein Hasenbau verbirgt sich nicht hinter der gammligen Tapete im hygienisch zweifelhaften WC dieser verqualmten Kneipe im französischen Hinterland. Auch ein weißer Hase ist nirgends zu sehen. Und doch liegt dahinter das Tor in eine andere Welt, das die Punkette Charlotte (Émilie Dequenne) nach viel Geknibbel freilegt. Zuvor war ihr Begleiter Max auf dem WC spurlos verschwunden, danach findet sie sich im rustikalen Folterkeller der psychotischen Gastwirtin „La Spack“ (Yolande Moreau) wieder, die hinter der Gasthausfassade ein mistgabelbewehrtes Regiment führt wie sonst nur die Herzkönigin: Alice im Terrorland.
„The Pack“ ist der Debütfilm von Franck Richard, heute Abend eröffnet er in Berlin das Fantasy Filmfest. Eine in mehrfacher Hinsicht sinnvolle Terminierung: zum einen, weil sich im diesjährigen Programm eine erstaunlich hohe Zahl bemerkenswerter Debütarbeiten findet. „Harry Brown“ von Daniel Barber etwa, ein hochkonzentriertes, in klaren Bildern ruhendes Selbstjustizdrama um einen taktvollen britischen Rentner (Michael Caine), der in einen Konflikt mit gewalttätigen Jugendlichen zusehends eskalierend eingreift, oder „Amer“ von Hélène Cattet und Bruno Forzani, eine in satten Primärfarben schwelgende Hommage an den „Giallo“, den von Regisseuren wie Mario Bava und Dario Argento geprägten italienischen Slasherfilm der 70er Jahre.
Eine sinnvolle Entscheidung aber auch, da „The Pack“ gewissermaßen wie das Fantasy Filmfest selbst funktioniert, wenn sich in dem bis dahin strikt nach Muster des „Backwood-Horror“ vorgehenden Film plötzlich – den Konventionen nach deplatzierte – blutsaugende Zombies aus dem Erdreich wühlen.
Die zu Klischees geronnenen Bestandteile von „Torture Porn“ und Zombiefilm begreift Franck Richard weniger als rahmende Vorgabe, sondern als zur Verfügung stehendes Material, das er zu einen stimmungsvollen, im Gestus erfreulich unnerdigen Horrorthriller modelliert. Entsprechend präsentiert auch das Fantasy Filmfest die vorderhand enorm standardisierten, also mutmaßlich überraschungsarmen Genres Horror und Science Fiction in seinen besten Momenten anhand seiner innovativsten Beiträge: Filme wie der Highschool-Neo-Noir „Brick“ oder der hinreißend offenherzige „JCVD“ mit Jean-Claude van Damme, der gerade im Kino angelaufene „Moon“ oder „District 9“ hatten auf dem Fantasy Filmfest Premiere. Unter Fans zählen sie mittlerweile zum Kanon eines paracinephilen Autorenkinos an der Schnittstelle zwischen Unterhaltungskino und filmästhetischem Anspruch. Nicht zuletzt ist „The Pack“ auch programmatisch betitelt, zumal in Berlin am Potsdamer Platz, wo das Fantasy Filmfest sich mit der Berlinale im halbjährigen Rhythmus die selben Kinosäle teilt. Wo diese mit einer Programmatik zwischen ehrenwerter Filmkunst und geschmacksbiederer Ästhetik als „Fenster zur Welt“ mitunter bildungsbürgerlichen Boulevard bedient, erscheint das Fantasy Filmfest wie das wiedergekehrte Verdrängte: ein Haufen rüpelhafter Filme, ein Fenster zur Unterwelt.
Als Scharnier dazwischen verhält sich Michael Winterbottoms bereits im Berlinalewettbewerb gezeigter „The Killer Inside Me“, die Verfilmung des gleichnamigen Kriminalromans von Jim Thompson um einen Frauen mordenden Südstaatenpolizisten. Im Vorfeld der Filmfestspiele als Skandalfilm gehandelt, musste der Skandal im Nachhinein fast schon herbeigeschrieben werden: In dem müde und lustlos plätschernden Film wirkten zwei demonstrativ brutal in Szene gesetzte Mordszenen allenfalls wie sinnlos eingestreute Wachmacher.
Doch sind solche im internationalen Festivalbetrieb bestens etablierte Namen wie Michael Winterbottom beim Fantasy Filmfest eher die Ausnahme. Gerade am Potsdamer Platz ist die Situation befremdlich paradox: Was hier eine Woche lang im Zentrum der Stadt auf den größten Leinwänden zu sehen ist und im Anschluss durch sieben weitere deutsche Städte tourt, führt ansonsten eine Existenz im Schatten der Öffentlichkeit. Die wenigsten Filme erfahren eine reguläre Kinoauswertung, das meiste landet in den folgenden Monaten als DVD-Premiere in den Videotheken, mitunter aus Jugendschutzgründen geschnitten, gelegentlich auch indiziert und damit weiter in die Obskurität einer individuierten Konsumkultur jenseits sozialer Verhaftung abgedrängt.
Als gemeinschaftliches Erlebnis entfalten Horrorfilme jedoch erst im gut gefüllten Saal ihre eigentliche Wirkung zwischen Angstlust und kathartischer Befreiung. Das Fantasy Filmfest liefert hierfür jährlich den besten Beweis.
■ Programm unter www.fantasyfilmfest.com