„Hunde kacken bekanntlich ungern am Hang“

DER RÜCKKEHRER In Kolumbien lebte Raul Zelik in Städten mit hoher Kriminalitätsrate, ohne dass ihm viel zustieß. Zurück in Berlin, wurde der Schriftsteller im Görlitzer Park überfallen. Dem Gewaltmonopol des Staates misstraut der Mitgründer der linksradikalen Initiative „FelS“ weiterhin

■ Leben: Raul Zelik wurde 1968 in München geboren und zog 1988 nach Berlin-Neukölln. Der Kapitalismusgegner gehört zu den Mitbegründern des linksradikalen Netzwerks „Fels“ (Für eine linke Strömung), er promovierte 2008 in Politikwissenschaft über den Kampf der kolumbianischen Guerilla. 2012 trat er der Linken bei.

■ Wirken: Der Publizist, Romancier und Lateinamerika-Kenner engagiert sich für die baskische Unabhängigkeitsbewegung und schreibt über lateinamerikanische Politik. Er übersetzt Bücher aus dem Baskischen und schreibt als politischer Essayist über die Verhältnisse in Kolumbien und Venezuela – auch für die taz. 1997 erschien sein Debütroman „Friss und stirb trotzdem“ über den Mord an einem rechtsextremen Brüderpaar. Sein Roman „Berliner Verhältnisse“, erschienen 2005 im Blumenbar Verlag, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zwischen 2008 und 2013 lebte Zelik als Gastprofessor in Kolumbien. Nach seiner Rückkehr an die Spree wurde der Vater zweier Töchter Opfer eines brutalen Raubüberfalls im Görlitzer Park. (api)

INTERVIEW NINA APIN
FOTOS WOLFGANG BORRS

taz: Herr Zelik, radeln Sie eigentlich noch durch den Görlitzer Park?

Raul Zelik: Nur noch tagsüber.

Sie wurden im vergangenen September Opfer eines Raubüberfalls. Die Täter zogen Sie vom Rad, brachen Ihnen den Kiefer, Sie haben immer noch eine Titanplatte im Mund. Wurden die Täter inzwischen gefasst?

Keine Ahnung. Ich habe gehört, dass zwei mutmaßliche Täter in Haft sitzen, aber mehr weiß ich auch nicht.

Hat sich Ihre Wahrnehmung der Stadt durch den Überfall verändert?

Klar. Ich bewege mich misstrauischer. Wie man es in den meisten Großstädten der Welt macht. Der öffentliche Raum europäischer Städte ist ja global eher die Ausnahme. Eins meiner Hauptargumente, nach Berlin zurück zu kommen, war, dass ich hier zu jeder Tages- und Nachtzeit mit dem Fahrrad langfahren kann, wo ich will. Jetzt fühlt sich Berlin für mich mehr wie der globale Regelfall an.

Sie haben fünf Jahre in Bogotá und Medellín gelebt, die beide als sehr gefährliche Städte gelten. Dort ist Ihnen nie etwas passiert?

Nein, aber ich habe mich auch anders bewegt als in Deutschland. Sehr paranoid. Was mich an dem Überfall im Görlitzer Park besonders erschreckt hat, war seine idiotische Brutalität: Die Leute haben mich sofort mit einem Faustschlag vom Fahrrad geholt und dann auf mich eingetreten. Im ersten Moment bin ich gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass die mir was klauen können wollten, ich dachte an eine sinnlose Prügelorgie.

Ihre Frau rief die Polizei. Für jemanden wie Sie, der lange der radikalen Linken angehörte, muss es befremdlich gewesen sein, sich mit der Polizei zu unterhalten.

Nein, das war für mich überhaupt nicht befremdlich. Ich habe ja nichts gegen Polizei, wenn sie Gewalt verhindert, sondern wenn sie Gewalt ausübt. Die Beamtin, die mich nach dem Überfall vernommen hat, war sehr aufmerksam und umsichtig – im Übrigen auch gegenüber den Verdächtigen. Das fand ich gut. Allerdings glaube ich nach wie vor nicht, dass sich das Problem mit der Polizei beheben lässt. Die Gewalt ist ja nicht weg, wenn drei oder vier Leute in den Knast kommen.

Verspüren Sie ein Rachebedürfnis?

Nein, warum sollte ich? Aber ich fände es gut, wenn die Täter merken, dass dieser Überfall auch für sie nicht folgenlos bleibt.

Ein Überfall im Görlitzer Park ist ein Politikum: Schnell ist eine Verbindung mit dem dort ansässigen Drogenhandel hergestellt. Sie haben im Tagesspiegel öffentlich dargelegt, warum Sie zuerst von einem Zusammenhang mit den Dealern ausgingen, die Hypothese aber später verworfen haben. Warum?

Mein erster Gedanke war: Klar, da, wo es Drogenhandel gibt, verschärft sich auch die Gewalt. Aber ich hab mich dann noch mal mit Freundinnen über den Park unterhalten, und sie haben mich dran erinnert, dass es vor 15 Jahren, also eine ganze Zeit vor dem Drogenhandel, dort schon mal eine Serie von Vergewaltigungen und Überfällen gab. Und was ist mit dem Alexanderplatz? Ende 2012 wurde da Johnny K. totgeprügelt – ohne Drogenhandel. Man spürt nach so einem Angriff das starke Bedürfnis, die Gefahr einzugrenzen, also einem Ort oder einer bestimmten Gruppe zuzuordnen.Warum? Das macht die Angst kontrollierbarer. Aber es ist letztlich Blödsinn. In einem Leserbrief hat mich jemand kritisiert, dass ich nur von „jungen Männern aus Berlin“ gesprochen, aber keine ethnische Zuschreibung gemacht habe. Also erstens habe ich tatsächlich nicht genug gesehen, um etwas über die Täter sagen zu können. Aber selbst, wenn ich es könnte: Was macht es für einen Unterschied, wenn zwei Tatverdächtige die arabische Nachnamen ihrer Großeltern tragen? Das Problem soll externalisiert werden: die Drogen, die arabischen Jugendlichen. Letztlich bleibt es aber ein Berliner Problem.

Sind Sie froh, dass es keine Dealer waren?

Nein. Ich wäre froh, wenn mich überhaupt niemand angegriffen hätte.

Sie schrieben im Tagesspiegel , Sie störten die Menschenansammlungen, Bauzäune, Müllberge, Touristengruppen, freilaufenden Hunde. Der Görlitzer Park strahle etwas Nervöses aus. Diese Zeilen könnten auch von einem Berlinhasser der FAZ stammen.

Ich habe früher ja auch manchmal für die FAZ geschrieben. Und ich habe immer mit den Anti-Berlinern sympathisiert. Aber ja, ich habe den Görlitzer Park früher tatsächlich lieber gemocht. Ein paar Jahre habe ich im Sommer immer dort gearbeitet. Ich habe mich mit Papieren an den Hang an der Skalitzer Straße gesetzt: Hunde kacken bekanntlich ungern am Hang, und man hat dort einen schönen Ausblick. Aber mit der Zeit ist es mir im Park zu voll geworden. Zu viele Leute, zu viel Müll, zu wenig Platz.

Wird Ihnen Kreuzberg zu voll?

Als ich nach Berlin kam, konnte man auf der Skalitzer Straße Fußball spielen. Das, was die Zeitgeist-Magazine als provinziell bezeichnen, hat mir gefallen. Ich kann mit dem Gerede von der pulsierenden Metropole wenig anfangen. Das Interessante an Berlin – sowohl West als auch Ost – waren über viele Jahrzehnte die Leerstellen. Der runtergekommene Prenzlauer Berg in der Hauptstadt der DDR, die von der Immobilienspekulation teilweise verloren gegebenen Straßenzüge in SO 36, das waren Orte, wo Leute gemacht haben, was sie in München oder Magdeburg nicht hätten machen können.

Sie sprechen in der Vergangenheit.

Durch die Immobilien-Inwertsetzung werden die letzten Lücken heute geschlossen. Das ist natürlich Mist. Urbane Gärten, Treffpunkte, Kinderbauernhöfe, Partykeller entstehen dort, wo Raum nicht verwertet werden muss. Deswegen ist der Ausgang der Kampagne von „100% Tempelhofer Feld“ auch so wichtig für die Stadt. Wir brauchen die Leerstellen.

Sie sind 1988 nach Neukölln gezogen und leben jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, wieder dort. Wie erleben Sie den Wandel des Viertels?

Neukölln ist trotz aller Gentrifizierung nach wie vor ein Ort der Armut. Frustrierende Alltags- und Nachbarschaftserfahrungen gibt es, aber wir haben das doppelte Glück, selbstverwaltet-genossenschaftlich zu wohnen und schon relativ nah am S-Bahnring. In unserer Nachbarschaft steht ein Riegel alter Genossenschaftsbauten aus den Zwanziger Jahren. Die stellen sich als Gentrizierungsbremse für die Gegend heraus, weil sie offensichtlich einen Belegungsschlüssel haben und keine Kneipen in die Blocks reinlassen. Davor habe ich am Kottbusser Damm gewohnt. In dem Haus sind jetzt drei von sieben Wohnungen zu Ferienapartments umgebaut worden. So läuft die konkrete Wohnraumzerstörung in Berlin.

Warum genau haben Sie letztes Jahr Ihre Professur in Kolumbien aufgegeben und sich wieder fest in Berlin niedergelassen?

Wir wollten ja sowieso nicht immer wegbleiben, und als dann Nachbarn von uns in Medellín ermordet wurden, war klar, dass wir zurückgehen. Medellín gilt übrigens mittlerweile wieder als sicheres Ferienziel. In der Welt war die Stadt letztens unter den zehn schönsten Urlaubsorten. Da kann man gut dran erkennen, wie weit Realität und mediale Darstellung auseinanderfallen.

Auch in Berlin gibt es innerstädtische Slums: die besetzte Schule in der Ohlauer oder die mittlerweile geräumte Kleingartensiedlung in Neukölln und die Eisfabrik. Gibt es eine Lateinamerikanisierung?

Das sagen Aktivisten und Stadtsoziologen ja schon länger: Die Dritte Welt in der Ersten und umgekehrt. Und ich glaube auch, dass es eine Armut in Berlin gibt, die genauso fürchterlich ist wie Armut in Lateinamerika. Andererseits ist aber auch nicht zu übersehen, dass Städte in Lateinamerika noch deutlich segregierter sind: In Rio, Medellín oder Caracas nimmt die Mittel- und Oberschicht ja fast gar nicht mehr am Stadtleben teil, weil sie alles außerhalb ihrer Condominios und Malls für unzugänglich hält. In Berlin ist das noch lange nicht so. Aber eine Tendenz zur Fragmentierung der Stadt gibt es auch hier: Die Lebenswelten von Religiösen, Alternativen, Schwulen und anderen Gruppen haben sich in Berlin ja noch nie besonders aufeinander bezogen. Schon in den Neunzigern, als ich in Kreuzberg lebte, war das so. Aber mein Eindruck ist, dass sich das weiter verschärft hat.

Es muss ja nicht immer ein vertrauliches Miteinander sein. Das tolerante Nebeneinander macht doch gerade den Reiz des Großstadtlebens aus.

Ja, aber Kommunikationslosigkeit ist schon auch ein Problem. Im Ruhrgebiet oder in Hamburg scheinen mir die Communitys durchlässiger. Da gibt es gemischte Freundeskreise. In Berlin bleiben die Milieus weitgehend getrennt: Man kann im selben Viertel wohnen und sich noch nicht einmal mehr beim Einkaufen begegnen. Der eine geht in den Discounter, der andere zum Bioladen.

Wie handhaben Sie den Spagat zwischen dem linken Anspruch nach einer solidarischen Gemeinschaft auf der einen und der tatsächlichen sozialen und ethnischen Segregation auf der anderen Seite? Konkret auf den Alltag bezogen: Gehen Ihre Kinder in die Kiezschule um die Ecke?

In Berliner Schulen hängt extrem viel vom Engagement von Lehrern und Eltern ab. Deswegen ist einem natürlich nicht egal, auf welcher Schule die Kinder landen.

Also nicht die Kiezschule?

Doch, aber nicht um die Ecke. Im Übrigen haben die Probleme an Kiezschulen auch weniger mit Migrationshintergrund und Deutschkenntnissen zu tun, als gemeinhin behauptet, sondern mit der schlechten Ausstattung von Schulen und Hort, schlecht bezahlten, gestressten Erziehern und fehlenden Konzepten.

„Der Kapitalismus ist eine Scheißveranstaltung und lässt sich nicht freundlich beiseite bitten“

Sie waren in außerparlamentarischen Gruppen, haben Bücher über die Guerilla in Kolumbien und den bewaffneten Kampf im Baskenland geschrieben. Wie radikal sind Sie heute?

Genauso wie früher, aber anders. Der Aktivismus mit 20, 25 hat ja oft etwas Fanatisches. Das ist schon okay, weil man in der Intensivität viel lernt und in Frage stellt. Aber auf die Dauer bekommt es eben auch etwas Konservatives: identische Debatten, identische Praxis. Deswegen bin ich sehr für radikalen Kontextwechsel und Nomadismus. Ich bin jetzt der Linkspartei beigetreten. Ansonsten aber gilt auch weiterhin: Der Kapitalismus ist eine Scheißveranstaltung und lässt sich mit freundlichen Argumenten nicht beiseite bitten.

Sie gehörten zu denen, die das Gewaltmonopol des Staates ablehnten. Sehen Sie das nun, da Sie selbst Opfer ziviler Gewalt wurden, anders?

Mein Problem mit dem Staat ist ja nicht, dass er Gewalt verhindert, sondern dass er selbst schreckliche Gewalt ausübt. Gute Freunde von mir wurden gefoltert, von der spanischen Polizei, einem Land in der EU. Oder denken wir an die Verstrickungen der Geheimdienste mit dem NSU. Ich glaube, man ist gut beraten, auch der Staatsgewalt zu misstrauen.

Wie sehen Sie die Militanz, mit der Autonome ihre Freiräume in den Innenstädten verteidigen, etwa mit Farbeiern und Steinwürfen auf Eigentumswohnungen?

Militanz mit Farbeiern? Das verstehe ich jetzt nicht.

Und was ist mit dem Einwerfen von Fensterscheiben einer Baugruppe?

Keine Ahnung. Kommt wohl immer auf den Zusammenhang an. Da auch Entmietung, Verdrängung und Obdachlosigkeit keine gewaltfreien Veranstaltungen sind, kann man wahrscheinlich nicht so oberflächlich über das Thema reden.

Was tun Sie, wenn Ihnen Berlin zu eng wird – raus aufs Land?

Ja, warum nicht? Das Landleben hat seinen Schrecken verloren. Früher war das bäuerliche Leben wirklich vielleicht der Hort der Idiotie, heute kann man dank Internet und Filmpiraterie selbst in der kolumbianischen Savanne internationales Independent-Kino sehen.

Klingt nach Berlin wider Willen.

Nein, ich wohne gern in Berlin. Es ist nach wie vor eine vergleichsweise wenig kommerzialisierte Stadt, ein für politische Debatten offener Ort. Allein, dass über eine Nichtbebauung des Tempelhofer Felds debattiert wird – das wäre in den meisten Städten der Welt unmöglich. Aber wenn wir die Stadt weiter den freien Märkten überlassen, wird sie wahrscheinlich schon bald nicht mehr wiederzuerkennen sein. Dann gibt es tatsächlich keinen Grund mehr, hier zu wohnen.