Rüttgers mag Aktivurlaub

Ministerpräsident Rüttgers hat der Union einen Streit über Kapitalismus und Lebenslügen aufgezwungen. Forscher und Opposition: Rüttgers sucht Profil

DÜSSELDORF taz ■ Das Ferienhaus von Jürgen Rüttgers an der Côte d'Azur liegt rund 1.300 Kilometer entfernt vom Berliner Kanzleramt. Als der NRW-Ministerpräsident vor einigen Tagen seine Attacken gegen Kanzlerin Merkels Kurs ritt, muss er sich sicher gefühlt haben. Der CDU-Bundesvize hat der Parteichefin eine Debatte über „Lebenslügen“ aufgezwungen. „Die CDU ist keine kapitalistische Partei“, rief er aus dem fernen Frankreich.

Rüttgers' Einlassungen in der parlamentarischen Sommerpause sind ein wiederkehrendes Phänomen in jeder Ferienzeit. Seit der Ex-„Zukunftsminister“ von Helmut Kohl Anfang des Jahrzehnts in die nordrhein-westfälische Landespolitik wechselte, meldet er sich mit hochsommerlichen Ideen. Im Jahr 2000 attackierte Rüttgers etwa die Rechtschreibreform, 2001 warnte der damalige Oppositionsführer vor einer „neuen Welle von Gastarbeitern“. 2004 erfand er den Plan für eine „Generalrevision“ von Hartz IV.

Hatte der seit einem Jahr amtierende Ministerpräsident in den vergangenen Monaten nur vereinzelt über großkoalitionäre Projekte wie das Elterngeld oder den Kombilohn genörgelt, legt er bei seiner aktuellen Sommerloch-Offensive beinahe täglich nach. Mit einer Interviewserie vom Stern über die Zeit bis zum Handelsblatt wagt sich der NRWler an die Meinungsführerschaft in der Union heran.

Im Kern zielt Rüttgers' Kritik auf den Kurs von Parteichefin Merkel. Hartz IV gehöre endlich generalüberholt, fordert er. Die Union müsse Abschied nehmen von der „Lebenslüge“, niedrige Steuern führten automatisch zu mehr Investitionen und damit zu neuen Arbeitsplätzen, sagt Rüttgers. In seinem Bundesland sei der Effekt nicht eingetreten.

Widerspruch erntet Rüttgers jetzt nicht nur aus der Union, sondern auch vom liberalen Koalitionspartner in Düsseldorf. „Die schwarz-gelbe Koalition in NRW hat sich entschlossen, für ein einfacheres, gerechteres und eben auch ein niedrigeres Steuersystem auf Bundesebene zu streiten“, sagte NRW-Forschungsminister Andreas Pinkwart. Der FDP-Landeschef will seinen Chef dazu bringen, an einem neoliberalen Kurs festzuhalten. Rüttgers wolle mit seiner „allgemeinen Sozialrhetorik“ von seiner schlechten Bilanz ablenken, sagt die NRW-SPD-Oppositionsführerin Hannelore Kraft. Auch Wolfgang Clement (SPD) wirft seinem Nachnachfolger Profillosigkeit und Taktierei vor. Bei Rüttgers‘ Regierung sei „keine eigene Politik und kein eigener Charakter zu erkennen“, sagte Clement der taz nrw.

„Rüttgers nutzt das Sommerloch zur Profilbildung“, sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Uni Duisburg-Essen. Es gehe dem NRW-Regierungschef dabei nicht um eigene Berliner Karrierepläne, sondern um die Absicherung seiner Macht im Ex-SPD-Stammland NRW, sagte der Parteienforscher zur taz. Im Spektrum der Union stehe der NRW-Regierungschef für einen „Markenkern Gerechtigkeit“. Angesichts des Umfragetiefs der Union könne es Rüttgers gelingen, Partner in der Bundes-CDU für seinen sozialeren Kurs zu finden, sagt Korte: „Schon wegen der Größe des CDU-Landesverbands NRW muss Merkel die Kritik von Rüttgers ernst nehmen.“ Der Rheinländer werde wohl nicht aufhören mit seinen Rügen. MARTIN TEIGELER