Israels Siedlungen als lohnendes Geschäft

von Gadi Algazi

Israel könnte den Krieg im Libanon und im Gaza-Streifen glaubhafter als Selbstschutz begründen, wenn es zum Rückzug auf die Grenzen von 1967 bereit wäre. Mit seiner Siedlungspolitik hat jedoch Israel bereits große Teile des Westjordanlands in seine Ökonomie integriert.

Modi’in Illit – keine halbe Autostunde von Tel Aviv entfernt – ist eine große Siedlung im besetzten Westjordanland. Mehr als 30 000 Menschen leben hier. Bis 2020 werden es 150 000 sein, plant das israelische Wohnungsbauministerium. Demnächst soll die Siedlung den Status einer Stadt erhalten. Früher gehörte das Land zu fünf palästinensischen Dörfern – Ni’lin, Kharbata, Saffa, Bil’in und Dir Qadis.

Modi’in Illit ist ein typisches Beispiel für die großen Bauprojekte, die alle israelischen Regierungen als Teil jener „Siedlungsblöcke“ betrachten, die man auf keinen Fall zurückgeben will und letztendlich zu annektieren gedenkt. Diese Siedlung zeigt in aller Klarheit den Zusammenhang zwischen dem Bau der Teilungsmauer und dem Anwachsen der Siedlungen. Denn die Expansion von Modi’in Illit ist gleichbedeutend mit dem Ruin der Bauern von Bil’in. Durch den Sperrzaun zwischen Modi’in Illit und Bil’in verlieren sie etwa 2 000 Dunum (200 Hektar) Land – nahezu die Hälfte der Anbaufläche, die dem Dorf noch verblieben ist.

Seit Februar 2005 wehren sich die Bewohner von Bil’in in einem gewaltlosen Kampf gegen den Bau des Sperrzauns. Zusammen mit israelischen und internationalen Friedensaktivisten stehen sie jeden Freitag Hand in Hand vor den Bulldozern und Soldaten. Ähnliches geschieht in mehreren palästinensischen Dörfern, die vom Bau des Sperrzauns ebenfalls direkt betroffen sind. In Jayyous und in Biddu, in Deir Ballut, in Budrus und anderswo demonstrieren die Bewohner schon seit vier Jahren gegen die Mauer.

Diese außerhalb Palästinas fast unbekannten Aktionen werden in der Regel von einem lokalen „Volkskomitee gegen den Zaun“ koordiniert. Sie haben zwar bescheidene, aber bedeutsame Erfolge erzielt: In einigen Fällen konnte der Weiterbau des Zauns behindert oder verlangsamt werden. In anderen Fällen, etwa in Budrus und in Deir Ballut, führte der Widerstand im Verein mit gerichtlichen Verfahren und Solidaritätskampagnen sogar dazu, dass der Verlauf des Zauns geändert wurde und die Gemeinden einige ihrer verlorenen Felder, Weingärten und Wasserquellen zurückgewinnen konnten.

Spezialtruppen im Einsatz gegen Zivilcourage

Die eigentliche Bedeutung dieser kleinen „Sperrzaun-Intifada“, wie manche sie nennen, liegt wahrscheinlich darin, dass sie eine langfristige politische Perspektive bietet. In den ersten Jahren der zweiten Intifada waren kleinere, zaghafte Versuche eines gewaltlosen Widerstands nur eine Randerscheinung. Heute scheint diese Kampfform mancherorts zu einer festen Tradition geworden zu sein. Während die Chancen für einen gerechten Frieden in Palästina weiter schrumpfen und die Bewohner des Westjordanlands sich immer mehr mit einem Leben in Enklaven zwischen Straßensperren und Mauern abfinden,[1]bieten gewaltlose Aktionen im Rahmen eines breiten lokalen Widerstands neue Chancen. Für die Bewohner einiger palästinensischer und israelischer Dörfer ist der gemeinsam geführte Kampf während der zweiten Intifada eine prägende Erfahrung gewesen, die es vielleicht möglich macht, dass in Zukunft wieder solidarisch geführte Kampagnen organisiert werden können.

Bei dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Demonstrationen von Bil’in wurden bisher etwa 200 Personen verletzt und viele unter diversen Vorwänden verhaftet. Im Einsatz waren israelische Soldaten, die Grenzpolizei, die örtliche Polizei und private Sicherheitsdienste, die Holzknüppel, Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition einsetzten. Die Armee versuchte außerdem Mitglieder des Organisationskomitees von Bil’in mit nächtlichen Razzien und Festnahmen einzuschüchtern.[2]Die Behörden gaben sogar offen zu, dass bei den Demonstrationen auch Mitglieder einer Spezialtruppe, der Massada-Einheit, als Agents provocateurs auftraten. Als Araber verkleidet, versuchten sie, die Teilnehmer zu Gewaltaktionen anzustacheln.[3]Nur das entschlossene Eingreifen von Mitgliedern des Organisationskomitees konnte verhindern, dass diese Provokationen zu unkontrollierter Gewalt eskalierten, bei der es womöglich Todesopfer gegeben hätte.

Die israelische Besatzung wird häufig in Begriffen beschrieben, die man auf Konflikte zwischen zwei Staaten anwendet. Die Entstehung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) hat diese Tendenz gefördert. Doch im Kern handelt es sich um einen kolonialen Konflikt. Zwischen Israelis und Palästinensern geht es nur vordergründig um symbolische Gesten und diplomatische Schachzüge. In Wahrheit geht es um ganz konkrete Fakten, um Brunnen und Olivenhaine, um Gebäude und Straßen, um Einwanderung und Ansiedlung.

Es ist die Landschaft selbst – als natürliche und als von Menschen gestaltete –, die in diesem Konflikt radikal umgestaltet wird, und das nicht nur durch Grenzen und Zäune.

Durch die militärische und politische Kontrolle der Israelis, die diese seit 1967 ausüben, wurden die Rahmenbedingungen für einen tiefgreifenden Kolonisierungsprozess geschaffen. Es sind vor allem die Siedlungen, die verhindern, dass sich ein unabhängiger und lebensfähiger Palästinenserstaat etablieren kann. Zwischen 1967 und 2006 hat Israel im Westjordanland schätzungsweise 40 000 Wohnhäuser errichtet, mit einem Kostenaufwand von rund 4,3 Milliarden Dollar. Anfang 2006 ist die Zahl der israelischen Siedler in den besetzten Gebieten – ohne Ostjerusalem, aber einschließlich der Golanhöhen – erstmals auf über 250 000 gestiegen.[4]

Die israelische Besiedlung der besetzten Gebiete wird zwar häufig kritisiert, aber selten genauer untersucht. Wer verdient an diesem kolonialen Projekt? Und was bringt ganz normale Leute dazu, sich an diesem Unternehmen und damit an der Enteignung der palästinensischen Besitzer zu beteiligen? Betrachten wir die soziale Zusammensetzung und die politische Ökonomie dieser Siedlungen am Beispiel von Modi’in Illit.

Ein neuer Typ von Siedlungen

Diese Gründung ist kein Projekt von nationalistisch-messiasgläubigen Siedlern und deren politischen Repräsentanten. Treibende Kraft war vielmehr eine sozial und politisch heterogene Allianz, die sich aus Immobilienunternehmern, Investoren und Politikern zusammensetzt. Zweitens ist Modi’in Illit nicht nur eine der am schnellsten wachsenden, sondern auch eine der wenigen Siedlungen im Westjordanland, die auch während der zweiten Intifada weiter ausgebaut wurde. Und drittens leben hier nicht nationalistische Hardliner, sondern vorwiegend arme, kinderreiche ultraorthodoxe Familien, die dem politischen Zionismus und dem Staat Israel eher distanziert gegenüberstehen.

Ursprünglich wurde das heutige Modi’in Illit (Ober-Modi’in) 1996 unter dem Namen Kiryat Sefer gegründet. Während die meisten anderen Siedlungsprojekte von einer Koalition aus staatlichen Behörden, zionistischen Organisationen und radikalen Siedlergruppen ins Leben gerufen wurden, geht Modi’in Illit auf die Initiative privater Investoren zurück. Die Gründung fällt in die Periode nach dem Abschluss der Oslo-Abkommen von 1993 und die damalige Phase ungebremster Privatisierungen in Israel. Damit wurde es zum Musterexemplar eines neuen Typs von Siedlungen – initiiert von Privatinvestoren und unterstützt von der Regierung.

Im Fall Modi’in Illit gewährte der Gemeinderat diesen mächtigen Investoren spezielle Vergünstigungen. Wie aus einem Bericht des israelischen Rechnungshofs hervorgeht, mussten sie nicht die volle Steuer zahlen und durften manche Bauvorschriften umgehen. So entstanden tausende von Siedlungshäusern unter eindeutigem Verstoß gegen Gesetze – aber mit späterer Billigung des Gemeinderats, der nachträglich Änderungen an den Bebauungsplänen vornahm.[5]Die politische Priorität des Kolonisierungsprozesses und der Drang der Investoren nach schnellen Profiten gingen Hand in Hand.

Nach einem Untersuchungsbericht von 1998 gab es für die gesamte Wohnanlage „Brachfeld Estate“, die auf dem Land von Bil’in entstand, nie eine Baugenehmigung. Doch keines der illegal errichteten Häuser musste abgerissen werden.[6]Überdies läuft ein Großteil der Abwässer des Ortsteils Modi’in Illit in das Flüsschen Modi’in und verseucht das Grundwasser der Gegend.

Dies sind keine Einzelfälle von Korruption oder Misswirtschaft. Es handelt sich vielmehr um ein strukturelles Merkmal der kolonialen Expansionspolitik, denn ungeregelte Siedlungstätigkeit bietet nun einmal die Aussicht auf enorme Profite zu Lasten von Mensch und Umwelt.

Auf dem Land, das man den Palästinensern von Bil’in geraubt hat, entstehen derzeit zwei weitere Siedlungen. Eines ist das „Green Park“-Projekt. Als Bauträger fungiert die Firma Dania Cebus, eine Tochter der Africa Israel Corporation. Deren Besitzer Lev Leviev ist einer der mächtigsten Unternehmer Israels. Er will für die geplanten 5 800 Wohnungen 230 Millionen Dollar investieren.[7]Der operative Gewinn seines Immobilienunternehmens ist in den ersten drei Quartalen 2005 um 129 Prozent gestiegen. Andere führende Bauunternehmen planen ähnliche Projekte. Voraussetzung dafür ist ein entsprechender Verlauf des Sperrzauns, der die Dorfbewohner von Bil’in von ihren Feldern trennen wird. Auch für viele andere Siedlungen, die zwischen dem Trennzaun und der „Grünen Linie“ (der israelischen Grenze bis 1967) liegen, ist dieser Sperrwall von enormer ökonomischer Bedeutung: Er besiegelt die Annexion dieses Landstreifens und macht die neuen Siedlungen erst sicher. Damit wird sich der Wert der baulichen Investitionen deutlich erhöhen.

Interessant ist auch, wer sich als rechtmäßiger Besitzer des Grund und Bodens ausgibt, auf denen eines der neuen Viertel entsteht: zum einen die israelische Behörde namens Custodian of Absentee Property sowie der kaum bekannte Land Redemption Fund (LRF), also der „Landrückkauffonds“ der Siedler. Erstere ist eine Regierungsbehörde, die für die Verwaltung von „absentee property“ (verlassenem Grund und Boden) zuständig ist. Sie spielt eine Schlüsselrolle bei der Konfiskation palästinensischen Landes und besonders der Grundstücke von Palästinensern, die innerhalb Israels vertrieben wurden, aber auch von Palästinensern in den besetzten Gebieten. Wie israelische Menschenrechtsorganisationen aufgedeckt haben, fungiert diese Custodian-Behörde als Strohmann für den LRF der Siedler. Im Einzelfall läuft das so ab, dass die Siedler ein gekauftes Grundstück „an die Custodian-Behörde übertragen, die es zu Staatsland erklärt. Das ermöglicht den Beginn des Planungsverfahrens. Danach überschreibt die Behörde im Rahmen des Planungs- und Genehmigungsvertrags das Land wieder an den ursprünglichen Käufer […], ohne dass irgendwelche Kosten anfallen.“[8]

Der vor etwa zwanzig Jahren gegründete LRF der Siedler koordiniert die Übernahme von palästinensischen Grundstücken in denjenigen Schlüsselregionen, die für den weiteren Ausbau der Siedlungen vorgemerkt sind. Zu den Gründern des Fonds gehören nicht nur einige der ideologischen Führer der Siedlerbewegung, sondern auch ein Mann wie Era Rapaport, einer der Gründer des terroristischen Netzwerks der Siedler, das um 1980 in den besetzten Gebieten operierte. Er saß mehrere Jahre im Gefängnis, weil er in den Mordanschlag auf Bassam al-Shaka’a, den damaligen Bürgermeister von Nablus, verwickelt war.[9]

Mit welchen Methoden der Fonds bei seinen Landkäufen operiert, haben zwei israelische Journalisten herausgefunden: „Das Informationsnetz des Fonds besteht aus enttarnten (palästinensischen) Kollaborateuren […], aus pensionierten israelischen Geheimdienstmitarbeitern, die Informationen gegen Honorar beschaffen, und aus ehemaligen Militärgouverneuren.“ Letztere nutzen ihre alten Kontakte in den Dörfern der besetzten Gebiete. Beim Landerwerb treten in der Regel arabische Strohmänner als Käufer auf, tatsächlich aber stammt das Geld zumeist von rechtsgerichteten jüdischen Millionären wie Lev Leviev oder dem Schweizer Milliardär Nissan Khakshouri. Ganz ähnlich sahen die Methoden aus, mit denen das Bauland von Bil’in erworben wurde.[10]

Dieser Fonds hat also einen politischen und einen ökonomischen Hintergrund. Dem Fonds spenden Kapitalgeber Geld, die bei anderen Siedlungsprojekten als Bauherren oder Investoren auftreten. Ihre Freigebigkeit entspringt eben nicht nur politischer Überzeugung. Dasselbe Interessenbündnis findet sich auch bei anderen Projekten im Westjordanland, zum Beispiel in Tzufin, wo die bestehende Siedlung derzeit um das Elffache der ursprünglichen Fläche erweitert wird. Hier fungiert als Bauträger eine Immobilienfirma, die ebenfalls von Lev Leviev kontrolliert wird.[11]

Der Fonds konzentriert seine Bautätigkeit auf Gebiete nahe der Grünen Linie. Es geht ihm darum, Siedlungen im Westjordanland und Gemeinden innerhalb der israelischen Grenzen von 1967 möglichst eng zusammenwachsen zu lassen.[12]Dieser Prozess, die Grüne Linie zu verwischen, begann schon in den 1980er-Jahren. Seither entstehen knapp jenseits der Grünen Linie und nicht weit von den Wirtschaftszentren Israels entfernt neue Siedlungen für Mittelklassefamilien, die ideologisch nicht zur Siedlerbewegung gehören.

Unheilige Allianz für den Trennzaun

Dieses vordergründig pragmatische Projekt wurde zunächst durch die zweite Intifada gestoppt. Ab 2003 kam es dann aber wieder in Gang, als bestimmte Abschnitte des Trennzauns fertiggestellt wurden. Jene Teile des Westjordanlands, die zwischen diesem Zaun und dem Israel von 1967 liegen, wurden damit faktisch annektiert. Jetzt versprachen diese Siedlungen eine höhere Lebensqualität, denn das Gebiet wurde für Investoren wie Siedler in dem Maße sicherer, in dem man die palästinensische Gemeinde hinter der Mauer verschwinden ließ. Ethnische Säuberung geht auf ganz unterschiedliche Weise vonstatten und muss nicht immer dramatische Formen annehmen.[13]

Schon vor den letzten Wahlen regierte in Israel eine breite Koalition, die sich um das Zaunprojekt gebildet hatte, das heute zum politischen Vermächtnis Ariel Scharons geworden ist. Diese Allianz von Anhängern einer schrittweisen Annexion („Israel sollte die größeren Siedlungsblöcke behalten“) und einer „vernünftigen“ kolonialen Expansion (im Gegensatz zu den irrationalen Vorstellungen der ideologisch motivierten Siedler) sammelte sich unter einem gemeinsamen Banner, das ethnische Trennung und ökonomische Privatisierung propagiert. Diese Allianz verspricht den Israelis jedoch nicht etwa Frieden, sondern eine einseitige Befriedungspolitik und die Teilannexion des Westjordanlands, das damit auseinandergerissen und in mehrere umzäunte Enklaven zerfallen würde.

Auf Parteienebene hat sich diese Zaunkoalition erst langsam herausgebildet. Sie reicht heute über die Kadima-(„Vorwärts“)-Partei hinaus, die um Scharon und seinen Nachfolger Olmert entstanden ist. In der Realität jedoch, auf den Hügelrücken des Westjordanlands, zeichnete sich diese Koalition schon seit einiger Zeit ab, nämlich als unheilige Allianz bestimmter sozialer und ökonomischer Gruppen: von Siedlern und staatlichen Behörden, die den Trennzaun vorantreiben, von Immobilienfirmen und Hightechunternehmern, von altem Kapital und „New Economy“.

Das gemeinsame Projekt dieser Allianz – der Bau neuer Siedlungen in der Nähe der Trennmauer – bedient einen realen gesellschaftlichen Bedarf an Lebensqualität für die obere Mittelklasse, an Arbeitsplätzen und an subventionierten Wohnraum für die Unterprivilegierten. Die neuen Siedlungen verschaffen der Siedlerbewegung eine breitere soziale Basis und verzahnen sie mit anderen Interessengruppen – vor allem mit den größten Profiteuren des Zauns, den Bauunternehmen, Kapitalanlegern und gutbürgerlichen Hauskäufern, die in neuen, bewachten Luxusvierteln wohnen wollen, fernab von den Armen und abgeschirmt von den Palästinensern. Aber für dieses koloniale Projekt lassen sich auch Menschen gewinnen, die nur aus ihrer Misere herauskommen wollen, wie etwa kinderreiche Familien, die billige Wohnungen brauchen, oder Neueinwanderer, die von staatlicher Unterstützung leben und gesellschaftliche Anerkennung suchen. Aber genau diese Gruppen sind es, die am Ende als die Dummen dastehen werden. Denn sie sind nicht nur völlig von den Investoren und den Politikern abhängig, am Ende werden sie auch noch den Hass, der durch den Zaun entsteht, am stärksten zu spüren bekommen.

Auch in den Jahren des Osloer Friedensprozesses wurden die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten ständig ausgebaut. Die Zahl der Siedler hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt. Der Zuzug konzentrierte sich auf einige große Siedlungen, deren Bewohner keine ideologischen Motive hatten – Einwanderer aus Russland und Äthiopien, Leute aus ärmeren Wohnvierteln und kinderreiche Familien, die subventionierten Wohnraum suchten. Diese Gruppen wurden erst Mitte der 1990er-Jahre in das koloniale Projekt hineingezogen – und eher wider Willen, wenngleich unter dem Druck der beschleunigten Privatisierung und des zügigen Abbaus des israelischen Sozialstaats. Die Bewohner der beiden ultraorthodoxen Siedlungen Modi’in Illit und des 1988 gegründeten Betar Illit stellen ein Viertel aller jüdischen Siedler im Westjordanland. Diese beiden Orte sind dabei die statistisch ärmsten jüdischen Gemeinden, die es in Israel und den besetzten Gebieten gibt.[14]

Interessanterweise haben Bewohner von Modi’in Illit im September 2003 auf Fragen eines Journalisten versichert, dass sie sich nicht als Siedler betrachten. Nur die Wohnungsnot habe die kinderreichen Familien veranlasst, ins Westjordanland zu ziehen, weil es hier für sie – anders als innerhalb Israels – staatliche Unterstützung und subventionierte Wohnungen gebe. In demselben Bericht meinte ein Experte über diese Familien: „Ihre Lage war so verzweifelt, dass sie gewiss überall hingezogen wären.“

Auf diese Verzweiflung setzen die Führer der Siedlerbewegung. Ein Sprecher des Siedlerrats formulierte es so: „Auch wenn sie nicht aus ideologischen Gründen hierhergezogen sind, werden sie doch ihre Häuser nicht so leicht aufgeben.“[15]Vollkommen offen spricht man über den Mechanismus, der die Menschen in den kolonialen Prozess einbindet und zu „Siedlern wider Willen“ macht. Vor drei Jahren entblödete sich der Bürgermeister von Betar Illit nicht, Journalisten gegenüber zu erklären, die Ultraorthodoxen seien gegen ihren Willen in die besetzten Gebiete verfrachtet worden, damit sie dort als „Kanonenfutter“ dienten. Heute richten die Bewohner von Modi’in Illit und Betar Illit ihre Hoffnungen wahrscheinlich auf die entstehende Mauer, die auch ihnen Schutz bieten soll. So werden sie zu Nutznießern der Enteignung der Palästinenser.

Die zunehmende Verarmung in Israel treibt die unteren sozialen Schichten dorthin, wo die Regierung noch soziale Leistungen anbietet: in die zu kolonisierenden Gebiete. Dies hat die politische Landschaft verändert und selbst die ultraorthodoxen Parteien weiter nach rechts getrieben. Dieser Zusammenhang zwischen wachsender sozialer Ungleichheit und dem kolonialen Projekt fordert gleichzeitig von jedem Gegner der Siedlungspolitik, den Kampf für soziale Gerechtigkeit in Israel nicht aus den Augen zu verlieren.

Das wird noch deutlicher, wenn wir uns ansehen, wer genau in die Kolonie investiert: nicht nur der Immobilienunternehmer Lev Leviev, einer der mächtigsten Geschäftsleute Israels, sondern auch Firmen aus der Hightechbranche. Leviev steht wie kein anderer für die rapide Globalisierung der israelischen Wirtschaft und Politik und für deren Fähigkeit, nicht nur die physische Landschaft das Westjordanlands, sondern auch die soziale Landschaft in Israel zu transformieren. Leviev machte sein Vermögen ursprünglich mit der Ausbeutung afrikanischer Diamantenvorkommen und afrikanischer Arbeitskräfte.[16]Sein Unternehmen namens Africa-Israel investiert nicht nur in Siedlungen im Westjordanland, es hat auch als erstes bewachte Wohnanlagen für die israelische Oberschicht gebaut. Vor kurzem hat Leviev überdies die erste israelische Lizenz zum Betreiben eines privaten Gefängnisses bekommen.

Noch billiger produzieren als die indische Konkurrenz

In Modi’in Illit trifft die „alte Ökonomie“ der Bau- und Immobilienfirmen auf die New Economy des Hightechsektors – und beide sind eng mit dem Staat verflochten. Mehrere Softwareunternehmen haben sich dort etabliert. Das erste war Matrix, einer der größten Softwareentwickler in Israel. Das Unternehmen ist an der Börse von Tel Aviv notiert und hat etwa 2 300 Beschäftigte. Anfang 2005 eröffnete Matrix ein Entwicklungszentrum mit heute 150 Mitarbeiterinnen, bis Ende 2006 sollen es 500 sein. Um gegen die Konkurrenz billiger indischer Programmiererinnen anzukommen, beschäftigt Matrix gezielt Frauen aus der Siedlung. Aber die Firma erpresste auch hohe Subventionen von der israelischen Regierung, indem sie drohte, andernfalls das Entwicklungszentrum ins Ausland zu verlagern.[17]Der damalige Industrie- und Handelsminister Ehud Olmert beugte sich der Forderung.

Matrix fand die Alternative zu billiger indischer Arbeitskraft also im kolonialen Neuland Israels. Man kann es auch als den „heimischen Offshore-Sektor“ bezeichnen, denn hier findet sich alles, was man braucht: billiges, gestohlenes Land, staatliche Subventionen und öffentliche Mittel, Polizisten und Soldaten, die das Investitionsobjekt schützen, und natürlich ortsgebundene und disziplinierte Arbeitskräfte. Der israelische Kapitalismus surft nicht in einer digitalen Welt. Er integriert sich weiter in den Weltmarkt und erneuert sich zugleich, indem er an dem kolonialen Projekt teilhat.

Die Frauen, die für das Matrix-Entwicklungszentrum in Modi’in Illit arbeiten, gelten als äußerst fleißige und extrem produktive Arbeitskräfte: „Was anderswo ein Monteur in einer hektischen Arbeitswoche schafft, leisten die Mädchen bei uns glatt in drei Tagen“, erklärt der Leiter des Zentrums. Die Löhne liegen nicht nur im internationalen Vergleich ziemlich niedrig: Am Anfang verdient eine Arbeiterin nur den Mindestlohn von etwa 4 Dollar pro Stunde. Im zweiten Jahr kommt sie auf etwa 1 000 Dollar im Monat, von denen die Firma ein Fünftel vom Staat bekommt. Zudem sind die Beschäftigten für mindestens zwei Jahre an die Firma gebunden.[18]

Einer der Betriebsleiter hat das Lohnniveau so erklärt: „Die Ultraorthodoxen sind es gewohnt, von nichts zu leben. Wenn diese Frauen ein bisschen was verdienen, ist es für sie schon viel.“[19]Und der Pressesprecher der Firma räumte ein, dass die Löhne, die man den ultraorthodoxen Frauen von Modi’in Illit zahlt, nicht die relative Produktivität oder den Preis ihrer Leistungen auf dem globalen Markt ausdrücke, sondern „ihre niedrigen Lebenshaltungskosten“.[20]Eine bemerkenswerte Anleihe bei der Marx’schen Werttheorie aus kapitalistischem Munde.

Das Matrix-Entwicklungszentrum ist streng koscher. Zwei Rabbiner sind ständig präsent, damit die Lebensweise und die ethischen Werte der Belegschaft eingehalten werden. Obwohl die Arbeiterinnen nach einem komplizierten religiösen und beruflichen Kodex leben, äußert sich ein Projektleiter in Modi’in Illit über ihre Arbeitsmoral hochzufrieden: „Selbst wenn sie sechs Kinder haben, lassen sie weniger Arbeitstage ausfallen als eine Mutter von zwei Kindern in Tel Aviv. Diese Frauen machen keine Probleme. Sie tun nichts als arbeiten: keine Rauch- oder Kaffeepausen, kein Telefonieren am Arbeitsplatz, keine Internetrecherchen zu einem billigen Türkeiurlaub. Pausen machen sie nur, um zu essen oder Muttermilch abzupumpen, wofür ein besonderer Raum da ist. Einige Frauen gehen kurz zum Stillen nach Hause und sind gleich wieder zurück.“

In diesem Matrix-Entwicklungszentrum herrscht eine außergewöhnliche Stille. Persönliche Gespräche sind nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch unter den Frauen verboten. Eine Arbeiterin meinte dazu zu einem Journalisten: „Sie bezahlen uns für acht Stunden Arbeit, also erwarten sie, dass wir arbeiten. Wenn eine von uns zu viel redet oder im Internet surft, sagt ihr eine andere: ‚He, das ist Diebstahl‘ – als würden wir uns auf Kosten der Firma bereichern. Einmal baten wir um eine Pause von fünf Minuten zum Beten, aber der Rabbi meinte, unsere alten Weisen hätten auch keine Pause gemacht, sondern ihr tägliches Gebet während der Arbeit verrichtet. Und deshalb könnten wir unser Gebet auf die Zeit nach der Arbeit verschieben.“ Eine andere Arbeiterin meinte dazu: „Wir sind es gewohnt, keine verbotenen Dinge zu tun, selbst wenn uns niemand beaufsichtigt, denn es gibt ja jemanden, der uns von da oben beobachtet.“[21]

Das moralisch aufgeladene Wort gezel, das in der religiösen Tradition für „Raub“ oder „gewaltsame Entwendung“ steht, wird in Bil’in nicht etwa für den Raub palästinensischen Bodens gebraucht, sondern nur für den Diebstahl der wertvollen Zeit, die dem Arbeitgeber durch das Gerede der Frauen verlorengeht. Hier haben die traditionellen Autoritäten und die New Economy offenbar zu einer faszinierenden Allianz zusammengefunden. Doch die Realität entspricht wohl nicht immer dieser idealisierten Darstellung. Auch die ultraorthodoxen Arbeiterinnen bei Unternehmen wie Matrix würden sicher zuweilen gern die Vorschriften der Betriebsrabbis und die betriebliche Aufsicht unterlaufen. Doch für sie gibt es handfeste materielle Gründe, sich der strengen Arbeitsdisziplin zu unterwerfen. Denn wo sonst sollten diese Frauen Arbeit finden? Einer der Manager von Matrix hat es ganz offen formuliert: „Es gibt keine Arbeit in Modi’in Illit, und Frauen haben keine Autos, mit denen sie zu anderen Jobs pendeln könnten.“

Hier wiederholt sich auf bemerkenswerte Weise, was sich in Israel in den 1950er-Jahren abgespielt hat. Auch damals wurde der Prozess der inneren Kolonisierung mit Hilfe neuer jüdischer Einwanderer bewältigt, von denen viele aus der arabischen Welt stammten. Sie wurden an den Grenzen des jungen Staats angesiedelt, um die territorialen Gewinne aus dem Krieg von 1948 abzusichern. Aber sie dienten auch als billige Arbeitskräfte in der Frühphase der israelischen Industrialisierung. Damals wurden die sephardischen Immigranten aus der arabischen Welt als ungelernte Arbeiter behandelt, die über keinerlei Fertigkeiten verfügten. So wie man heute von den ultraorthodoxen Frauen behauptet, man helfe ihnen, vom Dunkel ans Licht zu gelangen, aus der Enge ihres Haushalts in ein modernes kapitalistisches Unternehmen. Dabei übersieht man ihren tatsächlichen Bildungsgrad ebenso wie die Tatsache, dass diese Frauen – neben ihrer Hausfrauentätigkeit – schon immer gearbeitet und zum Familieneinkommen beigetragen haben.

Zuweilen hört man das Argument, der israelische Kapitalismus werde im Zuge seiner Modernisierung in der Lage – oder sogar gezwungen – sein, die überholten Formen des Kolonialismus hinter sich zu lassen. Doch am Fall von Modi’in Illit zeigt sich, dass der israelische Kapitalismus digital und kolonial zugleich sein kann, also zwischen globalen Märkten und kolonialen Siedlungen hin und her changiert und je nach Bedarf auf ungehemmte Privatisierung oder auf nachhaltige staatliche Subventionierung setzt. Ein solches System wird so lange weiter funktionieren, bis das koloniale Projekt für Israel irgendwann zu einer eindeutigen Belastung wird und der Widerstand der kolonisierten Bevölkerung – oder der verbündeten Staaten – die Israelis zu einem Kurswechsel zwingt.

Fußnoten:

1Siehe die Analysen von Amira Hass in Ha’aretz, 24. März 2006.

2Siehe Meron Rapaport, „Symbol of Struggle“, Ha’aretz, 10. September 2005.

3Ha’aretz, 7. November 2005.

4Ha’aretz, 8. Januar 2006.

5Siehe den Bericht des israelischen Rechnungshofs No. 51a (2000), S. 201–218.

6Im Dezember 2005 bauten Aktivisten aus Bil’in ebenfalls ein kleines Haus auf einem palästinensischen Grundstück jenseits des Trennzauns, wobei sie argumentierten, sie hätten das Recht, auf ihrem Land zu bauen, solange nicht ein einziges der Siedlungshäuser abgerissen sei. Das Haus bekam den Namen „Zentrum für den gemeinsamen Kampf für den Frieden“. Siehe dazu Ha’aretz, 23. Dezember 2005.

7Sharon Kedmi, „Dania Cebus is to build in Modi’in Illit“, Globes, 15. August 2004.

8Siehe www.btselem.org/Download/200512_Under_the_Guise_of_Security_Eng.pdf.

9Das Opfer des Anschlags verlor dabei beide Beine. Siehe das Interview mit Era Rapaport in Ma’ariv, 5. April 2002.

10Siehe Ha’aretz, 3. und 8. Januar 2006; Shosh Mula und Ofer Petersburg, „The Settler National Fund“, www.peacenow.org/hot.asp?cid=247.

11Haaretz, 16. September 2005.

12Siehe Mula und Petersburg (Anm. 10).

13Siehe Gadi Algazi, „The Upper-Class Fence“, unter www.kibush.co.il/show_file.asp?num=5086.

14The Israel Central Bureau of Statistics, „Characterizing Local Councils and Ranking them according to the Socio-Economic Position of their Population“, Februar 2004.

15Alle Zitate aus: Tamar Rotem, „The Price is right“ in: Ha’aretz, 23. September 2003.

16Siehe die Artikel in Ha’aretz, 24. 3. 2005 und Ma’ariv, 24. 10. 2005; s. a. Rafael Marques, „Lundas – The Stones of Death: Angola’s Deadly Diamonds“: www.niza.nl/docs/200503141357095990.pdf.

17Siehe Protokolle des Knesset-Ausschusses für Naturwissenschaft und Technologie vom 29. Juni 2004.

18Ma’ariv, 11. November 2005.

19Ha’aretz, 17. Januar 2005.

20Ha’aretz, 19. September 2005.

21Ma’ariv (Anm. 18).

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Gadi Algazi ist Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, verweigerte 1979 (als erster „Refusnik“) den Wehrdienst in den besetzten Gebieten und ist Mitbegründer der jüdisch-arabischen Initiative Taayush.