Blut auf der Fahne

MAHNWACHE Vor der ukrainischen Botschaft in Berlin demonstrieren über 100 Menschen gegen das Regime Janukowitsch. Sie fordern das Ende der Gewalt in Kiew

„Jeder Tote ist ein Toter zu viel“

DEMONSTRANTIN VOR DER BOTSCHAFT

VON PLUTONIA PLARRE

Die Nachrichten aus der Ukraine lassen weiterhin Schlimmes befürchten, als in Berlin die Mahnwache beginnt. Weit über 100 Menschen haben sich am Mittwochnachmittag vor dem Botschaftsgebäude in Mitte versammelt, als aus der Ukraine die Nachricht kommt, dass die Sicherheitsdienste einen landesweiten „Anti-Terror“-Einsatz angekündigt haben. „Europa: Stoppt Terror in Ukraine“, heißt es auf einem der vielen Transparente, das die Demonstranten in die Fernsehkameras halten. Andere haben eine riesige ukrainische Fahne ausgerollt. Auf die blau-gelben Stoffbahnen ist ein rotes Tuch genäht. Es soll Blut symbolisieren.

Sie habe kaum geschlafen, erzählt die Schneiderin Ludmila Mlosch. Die Vorsitzende des Zentralverbandes der Ukrainer in Deutschland trägt, wie viele an diesem Nachmittag, eine blau-gelbe Schleife am Revers. „Wir weinen und machen uns große Sorgen“, sagt Mlosch. Sie lebt seit 1992 in Berlin, hat aber einen Sohn und viele Verwandte in der Ukraine. „Jeder Tote ist ein Toter zu viel“, ruft die gebürtige Ukrainerin Marina Schubarth. „Wir sind fassungslos, dass in Europa Menschen für die Freiheit sterben.“

Später ergreift Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, das Wort. Die EU müsse aufwachen aus ihrer Halbherzigkeit und Lethargie, fordert Fücks. „Wo ist sie, die Delegation, die nach Kiew fährt?“, ruft er. Die ukrainische Botschaft befindet sich direkt gegenüber dem Gebäude der Böll-Stiftung. Anfang Februar hatten Exilukrainer im Foyer der Böll-Stiftung eine „Alternative Botschaft“ eröffnet. An die 50 Engagierte unterhalten dort in wechselnden Schichten einen Informationsstand, der sich Euromaidan-Wache Berlin nennt. Auch Resolutionen kann man dort unterschreiben. Zum Bespiel die, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein internationales Krisenkomitee bilden soll.

Am Dienstag war es in Kiew zu einem Gewaltexzess gekommen. Mindestens 26 Menschen sollen bei den Straßenschlachten zwischen Polizei und Regierungsgegnern ums Leben gekommen sein. Die Nachrichtenagenturen sprechen von über 1.000 Verletzten. Die Zelte auf dem Maidan, dem zentralen Unabhängigkeitsplatz, standen in Flammen. Wochenlang hatten Tausende Regierungsgegner dort ausgeharrt.

Die Situation war am Dienstag eskaliert, nachdem 20.000 Demonstranten vor dem Parlament eine Verfassungsänderung gefordert hatten, die die Vollmachten von Präsident Wiktor Janukowitsch beschneidet. Am Abend waren Sondereinheiten der Polizei mit Wasserwerfern und Räumgeräten gegen die Regierungsgegner vorgegangen. Diese reagierten, indem sie Steine, Feuerwerkskörper und Brandsätze in Richtung der Uniformierten warfen. Ein nächtliches Krisentreffen zwischen Präsident Wiktor Janukowitsch und der Opposition war nach Angaben des Oppositionspolitikers Vitali Klitschko ohne Ergebnis geblieben.

Bei der Mahnwache in Berlin hatten einige Tränen in den Augen, als sie die ukrainische Nationalhymne anstimmen. Auf dem Bordstein brannten Grablichter. „Aufhängen Janukowitsch, das Schwein“, sagte ein Mann zu den Umstehenden. Die Fenster der ukrainischen Botschaft waren dunkel. Kein Mitarbeiter zeigte sich. Der Botschafter sei eh auf ihrer Seite, meinte eine Demonstrantin. „Wir müssen vor die russischen Botschaft ziehen“, forderte sie laut – erntete aber sogleich heftigen Widerspruch. Es sei wichtiger, vor dem Auswärtigen Amt zu demonstrieren, entgegnete eine Frau. Einigkeit herrschte immerhin darin, dass die Mahnwache nicht die einzige Aktion bleiben soll.

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