: Leben und Sterben in Sandvika
FEINJUSTIERUNG Klaus Böldl schreibt mit dem Roman „Der nächtliche Lehrer“ ein Manifest der Vereinzelung
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Die bewusste Entscheidung zur Absonderung erscheint in unserer nur vorgeblich auf Individualität, tatsächlich aber erschreckend konfektionierten Gegenwart verdächtig oder gar pathologisch. Vielleicht werden die Romane und Erzählungen des 1964 geborenen Klaus Böldl darum nur allzu leicht mit dem Begriff „altmodisch“ abgetan. Denn Böldl schreibt seit seinem ersten Roman „Studien in Kristallbildung“ an einem einzigen großen Werk der Vereinzelung, der Abgeschiedenheit.
Böldls Protagonisten sind allesamt Verwandte im Geiste, die sich auf die eine oder andere Weise auf den Weg machen. Weg von ihrem alten Leben, hin zu einem neuen, zu einem Zustand der Kontemplation oder, wie es in der essayistischen Erzählung „Drei Flüsse“ der Fall war, zurück in die Geburtsstadt Passau, die auch die Geburtsstadt des Autors ist. Der Ort und die dort verbrachte Zeit scheinen durch seine Figuren zu fließen. Die Brüche in diesen Existenzen erscheinen als elegant inszenierte Verschiebungen. Scheinbar geschieht nicht viel, in Wahrheit alles.
So ist es auch in Böldls neuem Text, der eher die Gattungsbezeichnung „Novelle“ verdiente. Lennart heißt die Hauptfigur, und gleich zu Beginn sitzt er, wie könnte es anders sein, in einem Zug in Richtung Nirgendwo: „Warum eigentlich, hatte er sich in den vergangenen Tagen immer wieder gefragt, empfahl ihn die Schulbehörde von der Hauptstadt, in der er kürzlich sein Referendariat beendet hatte, geradewegs in eine Abgeschiedenheit, die so tief war, dass man sich wohl niemals mehr aus ihr würde herausarbeiten können?“ Lennart ist Mitte zwanzig, ein wenig linkisch und trägt einen altmodischen Anzug, in dem er schwitzt. Sandvika heißt der Ort, an den das Schicksal – ein glückliches oder unglückliches – ihn verschlagen hat, im Norden von Schweden: Wald, Ackerland, Hügel, ein See, eine Kirche und saubere Straßen; „ein zärtliches Mitgefühl“, wie es heißt, erfasst Lennart bei seinem ersten Gang durch das Städtchen.
Auf wunderbare Weise komprimiert Böldl Prozesse von lebenswichtiger Tragweite in lakonischen, ja beinahe distanzierten und doch klaren Sätzen. Der Abstand der Erzählstimme zum Protagonisten steht in einem irritierenden Verhältnis zu der ausgeprägten Stilistik, von der „Der nächtliche Lehrer“ geprägt ist. Klaus Böldl schreibt ohne jedes Pathos und mit enormer Feinjustierung. Nie ist eine Beschreibung von Klängen, Farben, Gerüchen reiner Selbstzweck, Mentalität und Landschaft spielen ineinander. 1982, so lässt es sich rekonstruieren, kommt Lennart in Sandvika an. Er lernt die Leiterin der Stadtbibliothek kennen. Die beiden werden auf traumhaft selbstverständliche Weise ein Paar. Kurz vor der Geburt ihres Kindes kommt Lennarts Frau bei einem Autounfall ums Leben. Ab diesem Zeitpunkt wird Lennart zum Gespenst von Sandvika. Der Pfarrer und ein Lehrerkollege werden zu seinen einzigen Vertrauten; einmal ist auch für kurze Zeit wieder eine Frau im Spiel. Lennart lässt sie gehen; er hört nie wieder etwas von ihr.
Eines Tages veröffentlicht Lennart überraschend ein Buch: Um „Waldgedanken“, so der Titel, entsteht in Sandvika ein großes Geraune. „Das dunkle Gefühl eines ungeheuren Weltganzen“ drücke sich darin aus, sagen die einen; es sei „ein Bruchstück der entzifferten Natur“, sagen die anderen. Suspekt sind die „Waldgedanken“, die ironischerweise zum internationalen Bestseller werden, allen. Die Frage kommt auf, ob man den Verfasser eines derart der Welt entsagenden Werkes noch auf Kinder loslassen dürfe. Seine Versenkung in die Natur, noch im 19. Jahrhundert eine geradezu selbstverständliche philosophische Tat, wird in Sandvika gegen Lennart gewendet.
Das ist eine bittere Pointe des Romans, der sich als ein Manifest lesen lässt: als eine ganz und gar unverschwiemelte Beharrung auf dem notwendigen Recht auf Introspektive. Wahre Erkenntnis ereignet sich stets hinter oder neben dem, was man Wirklichkeit oder Zivilisation nennt. Klaus Böldl ist ein Autor, der Ernst macht. Und vielleicht der meistunterschätzte deutschsprachige der Gegenwart.
■ Klaus Böldl: „Der nächtliche Lehrer“. Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010, 126 Seiten, 16,95 Euro