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Archiv-Artikel

Wenn Engel schreien

TANZ Das Stück „Tempest: Without a Body“ des Samoaners Lemi Ponifasio ist verständlich und schön, aber etwas zu dick aufgetragen

„Tempest“ ist auch eine Anklage gegen die englische Königin

Der Schrei des Engels ist markerschütternd. Gekrümmt steht er da, den Blick hilfesuchend nach oben gerichtet, die zerzausten Flügeln wie geschrumpft – zu klein zum Fliegen. Wenn Engel schreien, ist die Welt dann noch zu retten? Walter Benjamins Beschreibung des Klee’schen „Angelus Novus“ ist berühmt: Der Engel, der vom Wind des vermeintlichen Fortschritts in die Zukunft geweht wird, der er den Rücken zukehrt, während sich vor seinen schreckgeweiteten Augen Trümmer häufen. Er ist einer der wichtigsten Bezugspunkte für Lemi Ponifasios Tanztheaterabend „Tempest: Without a Body“.

Die in Berlin mit Spannung erwartete Arbeit des aus Samoa stammenden Choreografen gastierte im Rahmen des Festivals „Tanz im August“ als deutsche Erstaufführung in der Volksbühne. Sie steht exemplarisch für den diesjährigen FestivalsSchwerpunkt „Menschenrechte“. Lemi Ponifasio ist in einem kleinen Dorf auf der westlichsten der Samoainseln aufgewachsen; dort hat er den Status eines Stammeshäuptlings. Er studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Neuseeland und gründete 1995 in Auckland die Kompanie MAU. Ihr Name leitet sich von der samoanischen Unabhängigkeitsbewegung ab. Als diese am Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurde, war Samoa deutsche Kolonie.

In „Tempest: Without a Body“ steht hingegen die neuseeländische Kolonisationsgeschichte im Vordergrund. Dabei wird der titelgebende Sturm zur vielschichtigen Metapher. In vager Assoziation wird auf das gleichnamige Shakespeare-Drama verwiesen, in dem ein entmachteter Herrscher die Insel kolonisiert, auf der er einst als Verbannter strandete. Vor allem aber ist der Sturm ein Bild des Aufbegehrens der neuseeländischen Maori gegen ihre ehemaligen Kolonisatoren.

Das Land wurde gestohlen

„Tempest“ enthält eine konkrete politische Anklage gegen die Königin von England. Der Maori-Aktivist Tame Iti, 2007 wegen Terrorverdachts kurzzeitig festgenommen, rezitiert sie auf Maorisch, in forderndem Singsang; sein tätowierter Körper steckt in einem dunkelgrauem Anzug. „Unser Land wurde gestohlen / Und unsere Gärten und Äcker / Unsere Vorfahren wurden entführt und aus ihren Häusern vertrieben.“ Bedrohlich wedelt Iti mit dem Zeigefinger und rollt die Augen – „bis heute glaubt Ihr noch an eure Überlegenheit“.

Elementen des maorischen Ritualtanzes „Haka“, der heute noch vor Rugby-Spielen getanzt wird, bedienen sich auch die elf Tänzer, die mit Iti auf der Bühne stehen. Aus dem Dunkel tauchen sie auf, in schlichtes Schwarz gekleidet. Ihre Fingerspitzen flattern, zittern wie hochsensible Tastglieder. Dann lassen behende Trippelschritte die Körper wie auf Rollen über die Bühne gleiten. Dazwischen immer wieder präzis synchrone, kraftvoll ausgreifende Armbewegungen und Handschläge auf die Oberschenkel – Selbstbehauptung, Kriegserklärung? Die Traditionen, aus denen Ponifasios Bilder und Bewegungen stammen, sind uns nur zum Teil geläufig. Dennoch wirkt „Tempest: Without a body“ keineswegs fremd. Der düstere Industrial-Sound, die Videoprojektionen, die auf eine silbrig schimmernde Wand geworfen werden, Tänzer mit Mikroports – Ponifasio ist ein wirkungsbewusster Eklektiker, dessen Arbeit ebenso von asiatischen Tanzstilen wie westlichen Einflüssen geprägt ist.

Die schönen Bilder aus Licht und Dunkel, die Ponifasio vor dem Hintergrund alarmierenden Tönens, metallischer Gongschläge, elektronischen Zirpens komponiert, sind hinreichend deutungsoffen, dass sie auch hier anschlussfähig sind. Da windet sich ein schwarz glänzender, wie ölverschmierter Körper, und man denkt an BP. Schulterblätter rotieren, als suchten sie die Flügel, die von ihnen abgefallen sind. Ein Tänzer misst im Vierfüßergang ein Lichteck aus, wie ein eingesperrtes, an Hospitalismus leidendes Tier. Irgendwann streckt der Engel eine blutige Hand nach oben, während sich der rote Blutfleck in der Videoprojektion immer weiter ausbreitet.

Vielleicht liegt es an solchen mitunter dick aufgetragenen, gen Eindeutigkeit und zugleich Beliebigkeit driftenden Bildern, an den zwar wohlgesetzten, aber sich wiederholenden Effekten, dass sich die Schreie des Engels im Verlauf des Abends abnutzen? Man wünschte, den Schock des Anfangs bewahren zu können. ANNE PETER