Sei pünktlich! Spuck nicht auf die Straße!

Die Lehrbücher für die Integrationskurse machen Migranten eher mit kulturellen Vorurteilen vertraut als mit dem Alltagsleben in Deutschland. Die NS-Geschichte kommt in dem neuesten Lehrbuch gar nicht vor. Bundesamt verspricht Nachbesserungen

VON ANASTASIA TELAAK

Geschafft! Die 22 Teilnehmer des Integrationskurses an der Kölner Sprachschule „Internationaler Bund“ sind erleichtert. 600 Stunden intensiven Deutschunterricht, zu denen Zuwanderer seit 2005 per Gesetz verpflichtet sind, haben sie bewältigt. Nun steht noch der ebenfalls obligatorische, 30-stündige Orientierungskurs an. Ein erfolgreicher Abschluss sichert einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung schon nach sieben statt wie bisher nach acht Jahren.

Als Maßnahme zur systematischen Integration misst das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg vor allem dem Orientierungskurs größte Bedeutung bei. Hier sollen neben Alltagswissen „Kenntnisse der Rechtsordnung, der Kultur und der Geschichte Deutschlands“, insbesondere auch Werte der Demokratie und Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, vermittelt werden. Aufschlussreich ist ein Blick in die Lehrwerke, über deren Eignung eine vom BAMF eingerichtete Bewertungskommission entscheidet. Vor allem auf den Seiten zur „kulturellen Orientierung“ und zu „Verhalten und Regeln“ finden sich in den fünf zugelassenen Lehrbüchern mitunter kuriose Darstellungen.

In den Materialien für den Orientierungskurs „30 Stunden Deutschland“ vom Klett Verlag etwa sollen die Migranten anhand von Zeichnungen vergleichen, welches Verhalten in ihrer Kultur und in Deutschland jeweils akzeptabel ist: sich unter Männern bei Begegnungen umarmen, unpünktlich sein, Kinder schlagen, auf die Straße spucken oder die eigene Ehefrau beim Einkaufen als Packesel missbrauchen? Nicht zu erkennen ist auf den Zeichnungen, ob es sich bei den dargestellten Personen um Migranten handeln soll oder um einheimische Mitteleuropäer – betrachtet man etwa den busenbetonten Pulli und die offenen Haare der Frau, die für ihren Mann die Einkaufstüten schleppt. Doch gerade diese pädagogische Tarnung wirkt befremdlicher als das unverhüllte Klischee. Was sollen die Migranten aus den scheinbar neutralen Darstellungen herauslesen? Dass mit den Bildern nicht sie, sondern Hinz und Kunz gemeint sind, dass es aber offenbar trotzdem nötig ist, gerade die Neubürger auf das rechte Benehmen hinzuweisen?

Wesentlich unverblümter kommt das in diesem Jahr neu erschienene Buch „Zur Orientierung. Deutschland in 30 Stunden“ vom Hueber Verlag zur Sache. In einem Comic stellt es eine Figur namens „Jacek“ vor. „Jacek“ macht alles falsch: Er wirft die Bananenschale in den Papiermüll, missachtet das Abstellverbot für Fahrräder und erscheint (wegen der erkrankten Mutter) verspätet zu einem Termin beim Ausländeramt. Dann steckt er dem absolut unbestechlichen, im Übrigen jedoch wohlwollenden Beamten auch noch eine Pralinenschachtel zu.

Zwei Seiten weiter fragt das Quiz „Leben in Deutschland“, ob es passend ist, im Restaurant behaglich-laut zu schmatzen, sich am Telefon mit „Hallo?“ zu melden oder einen deutschen Freund ohne Vorankündigung zu besuchen. Wer hier mit „Nein“ antwortet, ist zu beglückwünschen: Er weiß, was sich gehört – und kann stolz darauf sein, dass „sogar einige Deutsche von Ihnen lernen können, wie man sich in Deutschland verhalten soll“.

Immerhin Klartext. Die meisten Dozenten der Kölner Sprachschule behandeln diese Seiten in ihren Kursen jedoch nicht. Oder sie greifen zu anderen Büchern, die differenzierter mit den Fragen umgehen, die im normalen Unterrichtsalltag ohnehin regelmäßig zur Sprache kommen.

Erstaunliche Lücken finden sich dagegen in den Kapiteln zur deutschen Geschichte. Nur in zwei Lehrwerken werden Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust als eigenständige Themen präsentiert. In zwei weiteren Büchern gehören einige der relevantesten Fakten über das Dritte Reich immerhin zum „Basiswissen Geschichte“. Kein Wort dagegen findet sich in dem neuesten Hueber-Buch „Zur Orientierung. Deutschland in 30 Stunden“. Hier beginnt das Geschichtskapitel mit dem Jahr 1945. Es fehlt jeder Hinweis auf die Geschehnisse, die der Einführung der Demokratie in Deutschland vorausgingen. Als Opfer des Zweiten Weltkriegs werden außerdem ausschließlich Deutsche erwähnt: gefallene Soldaten, Kriegsgefangene und Trümmerfrauen.

Der zuständige Lektor Andreas Tomaszewski räumte gegenüber der taz zwar ein, dass man beim Thema Geschichte nur schwer auf die Behandlung des Dritten Reiches verzichten könne. Er berief sich aber auf die vom Bundesamt im Mai 2005 empfohlenen vorläufigen „Lernziele und Lerninhalte des Orientierungskurses“. Hier wird unter der Rubrik „Geschichte“ der Zeitraum ab „Entstehung der Bundesrepublik Deutschland nach NS-Diktatur und Zweitem Weltkrieg“ als obligatorische Unterrichtseinheit vermerkt. Dazu sagte Doris Dickel, Referentin der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU), in einem 30-stündigen Kurs sei „eine thematische Eingrenzung des Pflichtprogramms“ nun mal „unumgänglich“. Allerdings gehe man davon aus, „dass die Themen Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust in den meisten Orientierungskursen zumindest kurz angesprochen werden, da sie für das Verständnis der deutschen Geschichte nach 1945 unerlässlich sind“.

Inzwischen bedauert auch das Nürnberger Bundesamt für Migration, dass das „extrem wichtige Thema“ Drittes Reich aufgrund „mangelnder Erfahrungen aus den Vorjahren“ bisher nicht verpflichtend in die Richtlinien aufgenommen worden sei, wie eine Sprecherin auf Anfrage sagte. Nach der für Ende 2006 vorgesehenen ersten Evaluation der Orientierungskurse solle der Nationalsozialismus im endgültigen Rahmencurriculum berücksichtigt werden. Das Bundesamt kündigte zudem eine Nachbesserung des vom Hueber Verlag herausgegebenen Lehrwerks an.