: Die Lage nach Kevin
AUFARBEITUNG Der Tod des Zweijährigen unter Aufsicht des Jugendamts hat in Bremen zu strukturellen Verbesserungen geführt
Nachdem Polizisten am 10. Oktober 2006 ein tot geprügeltes zweijähriges Kind im Kühlschrank seines Vaters gefunden hatten, begann in der Bremer Jugendhilfe eine neue Zeitrechnung: vor und nach Kevin. Das Besondere an dem Fall war, dass das Jugendamt Kevin und seine Eltern von Geburt an kannte. Auch Ärzte, SozialarbeiterInnen und selbst der Bürgermeister wussten, dass das Kind bei einem Drogenabhängigen aufwuchs, nachdem die ebenfalls abhängige Mutter gestorben war. Zu spät hatte das Jugendamt entschieden, Kevin aus der Familie zu nehmen – und das, obwohl er schon mit einem halben Jahr mit Knochenbrüchen in der Kinderklinik lag.
Noch bevor der parlamentarische Untersuchungsausschuss seine Arbeit abgeschlossen hatte, wurde ein 24-Stunden-Notruf des Jugendamts eingerichtet. Und: Es wurde neues Personal eingestellt, weil klar war, dass die Fallmanager und Amtsvormünder zu viel zu tun hatten, um sich einzelnen Familien widmen zu können.
Heute, siebeneinhalb Jahre „nach Kevin“, sollen die Vormünder – die anstelle der Eltern das Sorgerecht haben – höchstens 50 Mündel betreuen, wie Bernd Schneider, Sprecher von Bremens Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne), sagt. Für die Fallmanager, bei denen im Jugendamt alle Informationen zusammenlaufen, gebe es keine Obergrenze. „Die Komplexität der Fälle ist entscheidend“, sagt Schneider.
Bundesweit stiegen nach Kevin die Ausgaben für die sogenannten Hilfen zur Erziehung an. In Bremen von 70 Millionen Euro in 2006 auf 160 Millionen Euro in 2013. Auch die Anzahl der Kinder, die aus ihren Herkunftsfamilien genommen wurden, stieg zunächst bundesweit sprunghaft an. Dass es immer noch jedes Jahr mehr werden, führen ExpertInnen auf die Zunahme von prekären Lebenslagen zurück.
Die meisten Kinder wurden relativ betrachtet laut statistischem Bundesamt im Jahr 2012 in Hamburg in Obhut genommen: Hier waren es 115 von 10.000 minderjährigen EinwohnerInnen. Bremen kam nach dem Saarland mit 95 Kindern an dritter Stelle. Der Bundesdurchschnitt: 59.
Allerdings hatte die retrospektive Analyse des kurzen qualvollen Lebens von Kevin offenbart, dass es nicht nur um Zahlen ging, sondern die Qualität der Jugendhilfe deutlich verbessert werden müsste. Heute, sagt Behördensprecher Schneider, könne es nicht mehr passieren, dass sich ein Fallmanager von Eltern hinhalten lasse und aufgrund persönlicher Probleme alle Warnzeichen missachte. „Es wird alles im Team besprochen“, sagt er.
Zudem wurde an einer neuen Kultur gearbeitet. Dazu bildete ein Team um den Berliner Professor für Sozialarbeit Reinhart Wolff in einem beispiellosen Projekt bis ins vergangene Jahr 800 MitarbeiterInnen fort. Dabei wurde auch ein Qualitätsstandard zur Zusammenarbeit im Kinderschutz entwickelt: sowohl im Team als auch mit der Familie und deren weiteren HelferInnen.
Wolff bemängelt, dass der Standard noch nicht überall erreicht werde und die Bremer Sozialbehörde als Leitungsinstanz Kinderschutz als bürokratisches Risikomanagement betreibe. Der Bremer CDU ist das noch zu wenig Kontrolle. Sie verlangt regelmäßig, die Analyse von Kinderhaaren auf Drogenrückstände auszuweiten.
Seit 2009 müssen mit Methadon substituierte Eltern unterschreiben, dass sie sich und ihre Kinder auf Drogen untersuchen lassen. Weitere Handlungsempfehlungen zum Umgang mit substituierten Eltern erarbeitet seit 2011 ein runder Tisch, an dem auch ÄrztInnen und DrogenberaterInnen sitzen. Und seit 2010 arbeiten ÄrztInnen an den kommunalen Kliniken zusammen, um die Betreuung von Kindern und Familien mit Gewaltverdacht zu standardisieren. EIKEN BRUHN