Gestorben am Hochzeitstag

HAUSBESUCH Anita und Mario hatten eine behinderte Tochter. Eine Lebensaufgabe, die sie mit Glück erfüllte

VON MARLENE GOETZ
(TEXT) UND QUIRIN LEPPERT (FOTOS)

Paunzhausen („die bayerischen Outbacks“), zu Hause bei Anita Holzer (58) und Mario Massong (57).

Draußen: Vor der Erdgeschosswohnung ein gepflegter Garten mit Teich und ordentlich gestapeltem Holz für den Winter. Ein kleiner Altar mit einem goldenen Buddha, eine Tischtennisplatte, auf der Terrasse eine Hollywoodschaukel. Das Gartenhaus sieht aus wie ein winziger Zirkuswagen.

Drin: Im Schrank auf dem Flur stehen fünf Paar Stöckelschuhe: rot, mit Glitzer und Federn. In der Wohnküche ein Sofa mit Leopardenstoff, an den Wänden Familienfotos, auf der Anrichte Blumen und CDs. Ein Raum ist besonders: Annabellas Zimmer – Mario und Anitas behinderte Tochter, die vor zwei Jahren gestorben ist – ist so geblieben, wie es war: In einem Regal Hunderte Hörbücher, in einem anderen Dutzende Puppen („Ihr Ein und Alles waren Babys. Ohne ihre Behinderung wäre Annabella garantiert Hebamme geworden“).

Wer macht was? Anita hat einen 400-Euro-Job als Arzthelferin in einem medizinischen Versorgungszentrum in Dachau („Ich mache hauptsächlich Ergo: Bei mir dürfen die Leute Fahrrad fahren“). Weil das Geld nicht reicht, um das Architekturstudium ihrer Tochter Sita in Rosenheim zu finanzieren, ist sie auf Arbeitssuche („Ich muss mich neu erfinden“). Mario ist Erzieher („Am liebsten wäre ich in Rente, aber ich würde mir keinen anderen Beruf wünschen“) und arbeitet neun Nächte im Monat in einem Wohnheim für mehrfach schwerbehinderte Erwachsene („Tagsüber ist es dort voll, aber nachts bin ich alleine und habe die Verantwortung für 45 Menschen“).

Wer denkt was? Mario beschäftigt sein Alter: „Als ich 30 war, habe ich mir gesagt, dass ich mit 50 nicht mehr arbeiten muss. Jetzt bin ich 57 und seit 25 Jahren ist es uns finanziell noch nie so schlecht gegangen.“ Seine Frau sagt dazu: „Wie Hartz-IV-Empfänger, aber wir arbeiten halt.“ Rente werden sie kaum kriegen. Anita überlegt, als zusätzliche Beschäftigung einen Behinderten zu betreuen: „Das kann ich.“

Anita: Geboren in Dachau als Kind unverheirateter Eltern. „Ein ‚Bankert‘ halt zu dieser Zeit“, erzählt sie, und dass ihr Vater im Gefängnis war, weil er keinen Unterhalt zahlen wollte, „so war das damals“. Sie wuchs im Haus der Großeltern auf, ihre Mutter, die in einer Kaserne („bei den Amis“) arbeitete, hatte sechzehn Geschwister. Viele ihrer Cousins wohnten auch im Haus. „Zum Geburtstag konnten wir niemanden einladen, da war die Bude schon voll.“ Sie lernte Arzthelferin, reiste drei Monate mit einer Freundin durch Asien und nahm dann einen Job bei Philip Morris an. „Das war richtig geil“, sagt sie, „gut bezahlt, und jeden Monat drei Stangen Zigaretten geschenkt.“ Mit 27 wurde sie schwanger, 1984 wurde Annabella geboren. Der Vater zahlte zwar Unterhalt, kümmerte sich aber nicht. Annabella war behindert. „Wir sind zu so vielen Ärzten gegangen, um herauszufinden, was sie hatte. Der letzte, den wir gesehen haben, war besoffen, er hat uns gesagt, dass so ein Kind nach zwei, drei Jahren sowieso stirbt.“ Fast zufällig, als Annabella schon zehn war, wurde ihre Krankheit diagnostiziert: Morbus Pelizaeus-Merzbacher, eine sehr seltene, degenerative Krankheit, die normalerweise erst in der Pubertät ausbricht. „Eine Impfung hat das bei ihr so früh ausgelöst“, sagt Anita. Trotz der schweren Krankheit hatte Annabella „einfach eine tolle Energie, eine besondere Ausstrahlung“ und wurde, gegen alle Erwartungen, 27 Jahre alt. „Ich wusste, es ist meine Aufgabe im Leben, für diesen Menschen zu sorgen“, sagt Anita. Das ganze Leben der Familie wurde um die Tochter herum organisiert. Die drei letzten Jahre baute Annabella immer mehr ab: Sie musste mit Sauerstoff versorgt werden, konnte sich nicht mehr bewegen und nur mit den Augen kommunizieren. „Manchmal mussten wir sie stundenlang ausfragen, sie antwortete mit Ja und Nein, aber man konnte über alles mit ihr reden. Und der Tod hat ihr keine Angst gemacht“, sagt Mario. Gestorben ist sie umgeben von vielen Freunden, in einem fröhlichen Moment. „Es war an unserem Hochzeitstag“, sagt Anita. „Ein bisschen makaber, aber ich glaube: Weil wir den Tag immer vergessen haben und das Annabella amüsierte, wusste sie, dass wir uns so immer an ihn erinnern würden.“

Mario: Geboren in Karlsfeld im Landkreis Dachau, drei Brüder. Eine Lehre als Bankkaufmann, weil er „es damals nicht besser wusste“. Nach ein paar Monaten merkte Mario, dass der Job nichts für ihn war. Bevor er Erzieher wurde, arbeitete er in „bestimmt 30 Firmen und in 30 unterschiedlichen Berufen“ und reiste viel. Nach der Fachoberschule verpasste er knapp seinen Studienplatz. „Zwei Freunde hatten geplant, durch die Sahara zu fahren. Ich musste ein Jahr warten, dann bin ich mit.“ Anschließend reiste er noch ein halbes Jahr durch Afrika, versäumte die neue Anmeldepflicht. „Dann ist es immer so weiter gegangen: Ich bin nach Jamaika, nach Indien, zwischendurch habe ich in Deutschland gearbeitet.“ Plötzlich waren zehn Jahre um. Seine Berufung als Erzieher fing mit einem Job als Busfahrer für Behinderte an. „Es war so eine tolle Atmosphäre, dass ich gesagt habe: Da will ich dazu gehören.“

Das erste Date: Weil Mario mit Anitas Cousins befreundet war, kannten sie sich schon seit der Kindheit. „Als die Annabella auf die Welt gekommen ist, war der Mario in Indien im Knast“, sagt Anita. Sein Visum war abgelaufen. „Ich habe ihr gesagt: ‚Wenn der zurück kommt, dann wird er dein Papa‘, weil ich wusste, dass er ein guter Vater sein würde.“ Nach zweieinhalb Jahren in Indien hatte Mario einen Kulturschock und versteckte sich eine Zeit beim Bruder. Dann nahm er einen Renovierungsjob an, im Haus wohnte Anita. „Während des Tapezierens sind wir uns näher gekommen“, sagt er und beide lachen. „Dann waren wir ruck-zuck z‘amm, ich bin eingezogen und für das Streichen hab ich nie einen Pfennig gekriegt!“

Die Hochzeit: Eine Ehe war für Mario lange unvorstellbar: „Wie die meisten Jungs habe ich getönt: Ich heirate nie!“ Dann erbte er etwas Geld, sie wollten die Wohnung kaufen. Für den Kredit war es günstiger, verheiratet zu sein. Im März 1999 gaben sie sich das Jawort. Nach Marios Vorstellung sollte es „ein Termin wie sonst auch sein: Bürgeramt und fertig“. Aber Anita wollte ein paar enge Verwandte und die besten Freunde einladen. „Nur der kleinste Kreis, aber dann waren es doch dreißig Leute“, sagt Mario. „Und wie so oft dachte ich im Nachhinein: Die Anita hatte recht.“ Sie sagt dazu: „Irgendwann machen wir auch noch eine Hochzeitsreise.“

Der Alltag: Es gibt keine feste Zeit zum Aufstehen, weil Marios Arbeitszeiten unregelmäßig sind. „Bei mir ist es senile Bettflucht“, sagt Anita. Zum Frühstück gibt es Kaffee und Zigaretten. Nebenbei macht Mario Sudoku („für meine Gehirnzellen“) und Anita ist am Computer: „Ich bin der Facebook-Freak und spiele Farmville.“ Das Mittagessen bleibt aus. „Unser Tagesrhythmus ist total durcheinander, wie bei Jugendlichen“, sagt Mario. „Manchmal kochen wir nachmittags um drei einen Schweinsbraten und essen nur ein Mal am Tag.“ Seit die Kinder nicht mehr da sind, feiern sie auch wieder und übernachten von Zeit zu Zeit bei Freunden.

Wie finden Sie Merkel? „Oh je“, sagt Anita. Mario glaubt, es sei vielleicht das Gleiche wie mit Strauß in Bayern: „Wir haben ständig gemeckert, aber alle anderen danach waren noch schlimmer.“

Wann sind Sie glücklich? „Wenn ich zu Hause bin, keine Termine habe und ohne schlechtes Gewissen machen kann, was ich will“, sagt Mario. Anita macht es glücklich, sich nicht mehr verbiegen zu müssen: „Ich bin in einem Alter, wo ich es keinem mehr recht machen muss.“

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