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Archiv-Artikel

Alles wissen, alles sehen, alles senden

WANDEL Nächste Woche findet in Berlin die Demonstration mit der wohl höchsten Smartphonedichte Deutschlands statt: „Freiheit statt Angst“. Wie haben Internet und Multifunktionshandys Proteste verändert?

Freiheit statt Angst

■ Die Demo findet am 11. September zum zweiten Mal in Berlin statt.

■ Der Aufruf richtet sich gegen Vorratsdatenspeicherung und Überwachung.

Alles tickern!

„Haltet die Blockaden! Auch wenn es etwas chaotisch ist, wir haben unser Ziel erreicht und den Aufmarsch verhindert!“, läuft mittags am 13. Februar 2010 über den Handyticker. Tausende Menschen haben in Dresden an diesem Tag einen der größten Naziaufmärsche der vergangenen Monate verhindert. Im nasskalten Wetter frieren viele Demonstranten, doch der Handyticker spricht ihnen Mut zu, sagt ihnen, wo noch Verstärkung gebraucht wird.

Handys besitzen schon seit zehn Jahren die notwendige WAP-Technologie, um Ticker abzurufen. Die WAP-Ticker haben sich aber erst in den vergangenen Jahren durchgesetzt. Auf Blockaden vor drei Jahren hatten sie fünfstellige Zugriffe, im Februar mehrere Millionen. Und auch die Antiatombewegung, die auf viele Jahre Blockadeerfahrung zurückgreift, nutzt inzwischen Handyticker. „Das ist eine kleine Revolution“, sagt der Sprecher der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg, Wolfgang Ehmke.

Während Handyticker bei Demonstrationen eher als Informationsmedium dienen, sind sie bei dezentralisierten Blockaden – wie eben in Dresden – auch eine organisatorische Hilfe.

Gleichzeitig birgt der Ticker die Gefahr, dass Demoteilnehmer sich von langweiligen Blockadepunkten lieber an aufregendere Stellen begeben. „Der Handyticker ist dabei aber nicht die wichtigste Form der Kommunikation“, sagt Christoph Ellinghaus vom Aktionsnetzwerk Jena, das schon seit Jahren Naziblockaden organisiert. „Viel wichtiger ist, dass Menschen sich in Gruppen organisieren und sich gemeinsam darauf einigen, einen Punkt zu blockieren.“ Dann werde es für sie auch leichter, weniger aufregende Situationen auszuhalten. Schließlich sei eine langweilige Blockade auch eine erfolgreiche. LRS

Nicht überwachen lassen!

Mit Smartphones kann man nicht nur toll Informationen empfangen und versenden – man hinterlässt auch massig Daten. Autonome Gruppen raten darum traditionell, das Handy bei Demos lieber zu Hause zu lassen. Aber was kann eigentlich schlimmstenfalls passieren, wenn man sein Smartphone mitnimmt?

Nicht allzu viel, glaubt man Internetanwalt Udo Vetter. Die Polizei dürfe die Inhalte von Handygesprächen, SMS und E-Mails nur auf richterlichen Beschluss abhören, sagt er: „Die Hürde für Telekommunikationsüberwachung ist unglaublich hoch.“ Prophylaktisches Abhören sei rechtswidrig, sich auf „Gefahr im Verzug“ berufen nicht möglich.

Anders sei die Sache bei Geheimdiensten: BND und Verfassungsschutz hätten weiter reichende Befugnisse, vor allem wenn es um die Bekämpfung von „verfassungswidrigen Bestrebungen“ gehe.

Eine „rechtliche Grauzone“ stellt laut Vetter dagegen die Lokalisierung von Demonstrationsteilnehmern via Handy dar.

Genau davor warnt die Bloggerin und Bürgerrechtsaktivistin Anne Roth: Sie rechnet damit, dass die Polizei auf der „Freiheit statt Angst“-Demo Rechtfertigungen dafür finden wird, mithilfe von Handydaten nachzuvollziehen, wer sich wohin bewege, und das auswerten werde.

Trotzdem wolle sie ihr Handy zur „Freiheit statt Angst“-Demonstration am 11. September mitnehmen. „Bei mir ist eh alles zu spät“, sagt Roth. Sie war 2007 ins Visier von Terrorermittlern geraten, weil ihr Partner Andrej Holm verdächtigt wurde, mit der „militanten gruppe“ in Verbindung zu stehen. In der Folge wurden ihre Telefone abgehört. Anderen Demonstranten rät Roth aber, das Handy vorsichtshalber daheim zu lassen.

Die Ortung von Personen sei nicht auf Teilnehmer einer Demonstration anwendbar, sagt dagegen Thomas Goldack, Pressesprecher der Berliner Polizei. Sie sei nur möglich, wenn es um eine schwere Straftat gehe.

Überraschender: Für das, was Demonstranten auf Blogs, in sozialen Netzwerken und auf Twitter während der Demo verbreiten, interessiert sich die Polizei laut Goldack eigentlich gar nicht: „Die Berliner Polizei wertet außerhalb strafrechtlicher Ermittlungsverfahren ausschließlich öffentliche Internetpräsenzen aus.“ MLA

Zu Hause bleiben!

Um Demonstrationen mitzuerleben, muss niemand mehr das Haus verlassen. Wer auf der Couch sitzen bleibt, bekommt sogar den besseren Überblick, ist gleichzeitig an allen Blockadepunkten. Was passiert, erfährt man in Echtzeit über Ticker – längst berichten neben den Veranstaltern auch alle anderen von Indymedia bis bild.de live im Netz. Twitter liefert auf Wunsch Kommentare und Randanekdoten von einzelnen Teilnehmern. Kurz nach Demonstrationsbeginn erscheinen die ersten Bilder bei Flickr, Filme bei YouTube gehen am selben Tag online. Das Video von Polizisten, die einen Teilnehmer der Freiheit-statt-Angst-Demo letztes Jahr ins Gesicht schlug, sahen Menschen, die zu Hause geblieben waren, vor vielen Demonstranten.

Warum dann noch auf die Straße? Zum Gesichtzeigen? Geht auch online! Zur Anti-Nazi-Demo in Dresden in diesem Februar hat Kommunikationsdesigner Christian Hochhuth mit dem Verein Netzdemokraten zum dritten Mal eine Onlinedemo veranstaltet. Etwa 700 Menschen luden ihr Foto auf eine Internetseite hoch. Hochhuth sieht das Problem der Netz-Couchpotatoes entspannt. „Die Leute, die früher auf die Straße gingen, gehen heute auch noch“, sagt er. Die anderen seien eine kritische Masse im Hintergrund. Oder einfach nur Demo-Voyeuristen. LUS

Einfach zurückfilmen!

Eine Demo im Mai 2010 in Berlin. Auf einem gesprayten Transparent an einem Demo-Wagen ist die Szene eines Kopftrittes abgebildet, darüber ein Schriftzug: „YouTube ist watching you“. Das Transparent bezog sich auf einen Vorfall auf der 1.-Mai-Demo in Berlin-Kreuzberg wenige Tage zuvor. Ein Polizist hatte einem am Boden liegenden Demonstranten im Vorbeilaufen gegen den Kopf getreten. Schnell stand auf der Videoplattform YouTube ein Film des Vorfalls. Der Fußtreter stellte sich.

Seitdem Handys nicht nur telefonieren, sondern auch fotografieren und filmen können, ist es unter Aktivisten weniger verpönt, das Mobiltelefon mit zur Demo zu nehmen. Galt vorher: Ein Telefon kann nur schaden, wenn es bei einer Festnahme ausgelesen wird, gilt nun: zurückfilmen. Je mehr, umso umfassender wird das Bild vom Demogeschehen, wird der einseitige Blick der filmenden Polizei relativiert.

„Als Demonstrant auf Demos zu filmen ist noch eine relativ neue Praxis“, sagt Tim Laumeyer von der Antifaschistischen Linken Berlin. Eigentlich habe erst die Freiheit-statt-Angst-Demo vor einem Jahr den Impuls zum Zurückfilmen gegeben. Damals war ein Teilnehmer von Polizisten geschlagen worden – was später durch Videos von Demonstranten belegt werden konnte. Die Ermittlungen gegen den Polizisten laufen noch.

„Man muss sich als Beamter natürlich darauf einstellen, dass Demonstranten filmen“, sagt Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Man könne auch nicht verhindern, dass die Bilder im Internet landen. Um strafrechtliches Verhalten gehe es dabei aber nicht. Eher um Grenzbereiche.

Laumeyer von der Antifaschistischen Linken nimmt sein Handy mit zur Demo. Er empfiehlt aber, genau zu sichten, was man ins Netz stellt – um nicht andere Demonstranten in Bedrängnis zu bringen. SVE