Der Tausendsassa

Bambus ist eine vielseitige Pflanze für Mensch und Tier. Aus den Halmen lassen sich Häuser, Hängebrücken, Flöten oder Essstäbchen herstellen

VON KLAUS SIEG

Es ist kaum zu übersehen: Das südchinesische Dorf Cheng Dui in der Provinz Fujien lebt vom Bambus. Berge gelber Späne liegen herum, Fasern, Schnipsel oder abgesägte Rohre in allen Größen. „Bambus ist ein gutes Geschäft geworden, wir müssen jedes Jahr mehr Leute einstellen.“ Zhou Yue Feng fasst prüfend in einen Korb mit aufgespaltenen Bambusstücken. Hinter dem Vorarbeiter schiebt ein Kollege mit schnellen Bewegungen eine Bambusstange über das rotierende Blatt einer Kreissäge. Das Kreischen der alten Säge zerreißt die Luft. Zhou Yue Feng verzieht das Gesicht und stößt die wackelige Tür zur Fabrik auf.

Die halboffene Halle besteht aus ein paar Ziegelsteinmauern, die ein großes Blechdach tragen. Spärliches Licht fällt durch die Lücken in den Mauern. Männer hocken auf Schemeln und spalten mit Hackmessern kurze Bambusrohre in Stäbchen. Die Stäbchen kommen in Maschinen, die aus der Zeit vor der Kulturrevolution zu stammen scheinen. Offene Keilriemen und Gelenke rattern und zucken. Der Boden vibriert. Die Maschinen hobeln die Rohlinge zu runden Essstäbchen.

Bambus ist der wohl universellste Rohstoff der Welt, ob als bleistiftdünner Halm oder Stange vom Durchmesser eines Ofenrohrs. In Asien begleitet die Pflanze den Menschen in allen Bereichen seines Lebens. Bambussprossen brutzeln in Millionen Woks. Reis und Teigklößchen, Jiaozi und Baozi genannt, werden in Bambuskörben mit Wasserdampf gegart. Baugerüste und Hängebrücken bestehen aus den flexiblen, aber sehr festen Bambusstangen. Die Menschen bauen Flöten, Möbel, Zäune, Boote und Häuser aus der Pflanze, die der Familie der Gräser angehört.

Jedes Jahr werden auf der Welt rund 20 Millionen Tonnen Bambus geerntet. Keine Pflanze der Welt wächst so schnell wie Bambus. Die produktivsten Länder, wie Indien, China und Burma, verfügen zusammen über knapp 20 Millionen Hektar Bambuswälder und -plantagen. Das entspricht fast der Fläche Rumäniens.

Von den 50 Millionen Einwohnern in der Provinz Fujien leben rund zehn Prozent mehr oder weniger vom Bambus. Möbel, Accessoires, Schmuck und Essstäbchen aus Bambus sind vor allem in der wachsenden Mittelschicht Chinas gefragt.

Das meiste wird in kleinen Fabriken hergestellt. Viele dieser Firmen sind Familienbetriebe oder ehemalige Staatsunternehmen, die von Privatunternehmern übernommen wurden. Oft sind das nervöse junge Männer in Lederjacken, die mit der Übernahme einer maroden Fabrik den Sprung in die harte Marktwirtschaft der Volksrepublik wagen.

Auf rund 300.000 Hektar wächst in Fujien Bambus. Das entspricht der dreifachen Fläche von Berlin. Viele der Wälder sind schwer zugänglich. Oft sind es Trupps von Wanderarbeitern, die das beschwerliche Schlagen der Pflanzen in dem unwegsamen Gelände des Wu Yi-Gebirges erledigen.

Ein grüner Schimmer liegt über dem Wald, in dem die Bambusse dicht an dicht stehen. Die Stangen biegen sich im seichten Wind. Es klackt und klockt in allen Tonlagen, wenn sie aneinanderschlagen. Leise rascheln die unzähligen dünnen Blätter zu dem Klangteppich dieses Perkussions-Orchesters. Die noch blasse Frühjahrssonne wirft das sich ständig ändernde Schattengemälde tausender Bambusrohre auf den Waldboden.

Chen Xiao Hua stapft den steilen Hang hinauf. In der Hand hält der 26-Jährige eine Machete, mit deren stumpfen Seite er gegen die großen Bambusse schlägt. „An dem Klang höre ich, ob die Pflanze genügend verholzt ist.“ Bambus wächst schnell zu der benötigten Größe von acht bis zehn Metern heran. Einige Arten können bis zu einen Meter in 24 Stunden zulegen. Zur Verwendung als Bau- oder Möbelwerkstoff kommt Bambus aber erst, wenn er ab dem dritten Lebensjahr verholzt. Erst dann ist das langfaserige Gewächs hart und standfest genug, um daraus in sich stabile Güter herzustellen.

Chen Xiao Hua hackt eine Stange um, die raschelnd zu Boden fällt. Blitzschnell spaltet er das Rohr in dünne Leisten, aus denen er Streifen schneidet, die kaum dicker als Papier sind. Es duftet süß und pflanzlich. Frauen flechten Körbe oder Hüte aus den Streifen, die etwas dickeren werden für Zäune oder Möbel verwendet.

Zhou Yue Feng in Cheng Dui lädt zur Teezeremonie in sein Büro, einer kleinen Bretterbude, in der eine nackte Glühbirne von der Decke hängt. Damit der kühle Wind aus den Bergen nicht durch die Ritzen zieht, hat der Vorarbeiter Zeitungen an die Bretterwand geklebt. „Wer nimmt unser Geschäft schon ernst“, sagt er: „Dabei sind 1,2 Milliarden Menschen, die mit Stäbchen essen, doch ein echter Markt.“ Zhou Yue Feng lacht und hebt sein Schälchen zum Mund.

Die 800 Einwohner Cheng Duis leben nicht schlecht vom Tee und von den Essstäbchen. In vielen Häusern läuft ein Fernseher. Die Jugendlichen knattern stolz auf ihren neuen Mopeds durchs Dorf. Doch der Bambusboom verlangt seinen Preis: An einer Hauswand gelehnt sitzt ein alter Mann in der Sonne und blinzelt zu uns herüber. Sein Gesicht ist von Falten zerknittert, am Kinn sprießt ein dünner Bart. Er winkt zum Abschied. Drei Finger fehlen an seiner Hand – kein seltener Anblick im Bambusdorf Cheng Dui.