Böser Zucker

Lang vor Johnny Depp brillierte Gene Wilder als manischer Chocolatier: „Willy Wonka und die Schokoladenfabrik“ (So., 20.40 Uhr, Arte)

Von Alexandra Seitz

Tim Burtons „Charlie und die Schokoladenfabrik“, im vergangenen Jahr in den Kinos zu sehen, war nicht die erste Verfilmung von Roald Dahls gleichnamigem Kinderbuch. 1964 erschienen, erzählt Dahl darin die bemerkenswerte Geschichte des außerordentlich exzentrischen Chocolatiers Willy Wonka, der fünf ausgewählte Kinder durch seine wunderlich-geheimnisvolle Fabrik führt, unterwegs vier missratene Bälger durch unglückliche Missgeschicke verliert und am Ende den wohlerzogenen, aber bettelarmen Charlie Bucket zu seinem Erben und Nachfolger erklärt.

Das im Grunde genommen reichlich fiese Erziehungsbuch war bereits 1971 von Mel Stuart unter dem Titel „Willy Wonka und die Schokoladenfabrik“ verfilmt worden. In dieser Adaption gab Gene Wilder in der Titelrolle eine hinreißende Vorstellung – vor allem im englischsprachigen Raum galt sie lange als ikonisch. Dahl aber hat sich seinerzeit über Stuarts Version derart geärgert, dass er einer Verfilmung der Fortsetzungsgeschichte („Charlie and the Great Glass Elevator“) die Zustimmung verweigerte. Der dem Buchautor in den Anfangstiteln des Films zugeschriebene Drehbuch-Credit ist insofern irreführend, als Dahls Fassung von dem ungenannten David Seltzer massiv überarbeitet wurde. Dahingehend, dass Wonka, der im Buch (und Burtons Film) ein erratisches, zwischen ausgesuchter Höflichkeit und rasanter Frechheit schwankendes Gesprächsverhalten zeigt, im Film mit Zitaten aus der klassischen Literatur um sich wirft, ansonsten aber sinnvolle Sätze spricht.

Doch nicht nur Stuart, auch Tim Burton nahm sich mit der Vorlage drastische Freiheiten heraus und dichtete Wonka kurzerhand ein Vatertrauma an, um die Sonderlichkeit der Figur nachvollziehbar zu machen. Was Dahl wohl zu Burtons Eigenmächtigkeit gesagt hätte? Und was er wohl zu jener Fassung von „Willy Wonka und die Schokoladenfabrik“ sagen würde, die nun zwar endlich überhaupt einmal im Fernsehen gezeigt wird, allerdings um einen Gutteil der Musicalnummern gekürzt ist?

Nun, Dahls Reaktion lässt sich denken, und natürlich sind die Kürzungen betrüblich, da sie vor allem die Darbietungen der kleinwüchsigen Oompa-Loompas betreffen, die als griechischer Chor fungieren und nicht nur in der Neuverfilmung zu den Highlights gehören. Es wäre aber verkehrt, sich davon das Vergnügen am farbenfrohen Original verderben zu lassen.

Unbeschwert der Erfindungslust und Spielfreude hingegeben, hält Stuarts – übrigens in München gedrehte – Adaption dem Vergleich mit der neueren teureren Burtons durchaus stand. Auch damals schon waren die Sets mit spektakulären Erfindungen aller Art angefüllt, deren Reiz im Selbstgebastelten ihrer Mechanik lag. Und Gene Wilder hinterließ in diesen Sets ein paar ziemlich große Fußstapfen für Johnny Depp, die der jedoch mit der ihm eigenen Extravaganz auszufüllen wusste. Wilders einfühlsame Darstellung des Chocolatiers als Melancholiker, der mal manisch-depressiv, mal verschmitzt, mal zornig agiert, ist das Herz des Films.

Wilder ist es auch zu verdanken, dass der Film das beunruhigende Geisterbahnpotenzial des Buches erreicht. Zum Beispiel in der entschieden psychedelisch inszenierten Raserei der Wonka-Yacht durch den stockfinsteren Fabriktunnel, während der er seine Figur kurzzeitig und gewinnbringend zum durchaus nicht vertrauenswürdigen mad scientist mutieren lässt. Die Irritation, die mit dieser Szene erreicht wird, ist nachhaltig. Süßer Verführer oder Rattenfänger? Es lässt sich nicht entscheiden.

Im Rahmen des Themenabends „Süße Versuchung“ zeigt Arte am Sonntag noch die Dokumentation „Der Mehlspeis-Adel“ (22.25 Uhr) und die Reportage „360°“ über den „Traum von Schokolade“ (23.15 Uhr)