„Die Durchschnittswerte sind halt so“

DEUTSCHLAND Thilo Sarrazin stellt in Potsdam Thesen zum Ende einer tausendjährigen Geschichte und seine Vererbungslehre vor

Die Entscheidung: Thilo Sarrazin ist am Donnerstagabend einer drohenden Entlassung zuvorgekommen, indem er Bundespräsident Christian Wulff um die Entbindung von seinem Amt gebeten hat. Die Bundesbank teilte mit, die Zusammenarbeit werde zum Monatsende beendet. Sarrazin gibt an, die Bundesbank habe ihm bereits vor seiner Entscheidung zugesagt, den Antrag auf Entlassung zurückzuziehen, in dem es hieß, er habe sich ausländerfeindlich geäußert.

■ Das Motiv: Sich mit der gesamten politischen Klasse und mit geschätzten 70 Prozent der veröffentlichten Meinung anzulegen, das halte auf Dauer niemand durch, sagt Sarrazin. Er werde das „wichtige Sachthema“, mit dem er sich beschäftige, aber weiter verfolgen. (gut)

VON ULRICH GUTMAIR

Fahrkarten hätte ich gern, für mich und mein Fahrrad, Berlin–Potsdam und retour. Die Schaffnerin sagt: „Sie können eine Tageskarte nehmen. Retourtickets darf ich nicht verkaufen. Wenn ich selber, sagen wir mal: auf dem Weg zu einer Buchvorstellung wäre, dann würde ich mir in Potsdam Fahrscheine für den Rückweg kaufen. Ist billiger. Ich wär auch gern dort. So ganz Unrecht hat er ja nicht.“

Vor dem Nikolaisaal in Potsdam haben linke Demonstranten einen Lautsprecherwagen aufgestellt. Sie halten Sarrazins Thesen für rassistisch. Das Gebiet wird von drahtigen Polizisten in makellosen Uniformen gesichert. Vor dem Eingang warten Menschentrauben. Ein paar kurzhaarige Jungmänner mit sehr dunklen Sonnenbrillen tragen Schilder, auf denen steht: „Thilo, führe uns!“ Als die Polizei sie in einen Hauseingang abdrängt, skandieren sie: „Thilo Sarrazin, einer von uns!“

Im Saal haben sich zehn Kamerateams postiert. Sie blicken von hinten auf viele graue Haare, das Durchschnittsalter liegt vielleicht bei Mitte fünfzig. Ein „bürgerliches Publikum“ im klassischen Sinn ist es nicht. Die deutsche Mittelschicht hat aus dem Kleiderschrank geholt, was sie für schick und präsentabel hält. Leute mit dunkler Hautfarbe, sicht- oder hörbarer migrantischer Geschichte gibt es keine.

Als Thilo Sarrazin die Bühne betritt, brandet Beifall auf, der eine Weile anhält. Der Gastgeber vom Brandenburgischen Literaturbüro, Hendrik Röder, sagt, die Wucht der medialen Verdammung Thilo Sarrazins sei uns allen gegenwärtig. „Welchen Wert aber hat die Meinungsfreiheit, wenn jemand auf höchste Order seinen Job verliert, beschimpft, geächtet und sogar bedroht wird?“ In den Gängen stehen Sarrazins Leibwächter und verziehen keine Miene.

Sarrazin ergreift das Wort: „Danke für den Beifall. Aber Sie wissen ja gar nicht, was ich sagen will.“ Als Volk, als Staat stünden die Deutschen vor einer Zeitenwende. Nach einer tausendjährigen Geschichte sei das deutsche Volk – rein quantitativ – auf dem Weg zur Selbstabwicklung. Die autochthonen Deutschen produzierten zu wenig Kinder. Das habe auch qualitative Folgen: Asiaten, Osteuropäer oder die iranische Elite seien eine Bereicherung für Deutschland. Aber die schlechter Gebildeten vor allem aus dem muslimischen Kulturkreis bekämen mehr Kinder. „Die Durchschnittswerte sind halt so.“ Das Problem sei durch Bildung nicht zu lösen.

Ralf Schuler, Ressortleiter Politik der Märkischen Allgemeinen Zeitung, stellt seinem Gesprächspartner die Frage, warum es nicht genügt, auf statistische Trends aufmerksam zu machen. Wozu die Ausflüge in Genetik und Vererbungslehre? Sarrazin antwortet, es sei nun mal gesichert: „Der Grad der Bildungsfähigkeit ist erblich.“

Kurzhaarige Jungmänner mit Sonnenbrillen tragen Schilder, auf denen steht: „Thilo, führe uns!“

Hat die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern dem Autor Sarrazin nicht gerade vorgeworfen, er habe aus ihrer Forschung zum Zusammenhang von Intelligenz, Vererbung und Bildung falsche Schlussfolgerungen gezogen, will ein Zuhörer wissen. Im Kern habe Stern ihm nicht widersprochen, meint Sarrazin. „Sie mag auch unter Druck sein von ihren Bildungsauftraggebern.“

Ein anderer Mann sagt, zwischen Kindern von Arbeitern und Bauern und solchen aus gebildeten Schichten hätten an den DDR-Universitäten keine Leistungsunterschiede bestanden. Wie Sarrazin sich das erkläre? Er erklärt es: „Wenn ein intelligenter Arbeiter ein intelligentes Kind bekommt, hat sich seine Intelligenz vererbt. Und wenn ein dummer Akademiker ein dummes Kind bekommt, hat sich seine Dummheit vererbt.“ Ein Zuhörer am Saalmikro meint, Sarrazins Vererbungslehre sei das Ende des humanistischen Menschenbildes. „Gott sei dank!“, ruft es aus dem Publikum.

Beim Weg nach draußen bemängelt eine pensionierte Lehrerin Sarrazins Vorstellung von Intelligenz. Er habe keinen Schimmer, wie reich und vielfältig jeder Einzelne sei. Und eitel sei er auch. Draußen stehen Demonstranten mit Trillerpfeifen. Ein zotteliger Hippie brüllt die alte Dame an: „Pfui! Pfui!“ Sie lächelt still und geht weiter.