Der Soziologe hinter der Kamera

FILM Hinter den Fassaden des Bürgertums: Claude Chabrol ist tot. Er war der arbeitswütige Traditionalist und große Ausprobierer unter den Kinoerneuerern der Nouvelle Vague

„Ich hasse die Bürger, ich bin selbst einer“, hat Chabrol einmal mit seinem Sinn für Widersprüche gesagt

VON DOMINIK KAMALZADEH

„Bonheur“, das französische Wort für Glück, will Kommissar Bellamy (Gérard Depardieu), dem Helden des gleichnamigen Films, beim Kreuzworträtsellösen einfach nicht einfallen. So etwas kann eigentlich nur einer Figur von Claude Chabrol passieren. Erst ein Kriminalfall darf als Glücksfall gelten. Erst ein Mord bringt Abwechslung in den öden Alltag.

Über 50 Jahre lang widmete sich der französische Regisseur der Durchdringung bürgerlicher Lebenswelten und -lügen, und hat dabei zu einer unverwechselbaren Handschrift gefunden. Das gewaltvolle Drama des menschlichen Miteinanders verfolgte er mit spöttischem Blick, ohne es völlig zu desavouieren. „Ich hasse die Bürger, ich bin selbst einer von ihnen“, hat Chabrol einmal mit seinem Sinn für Widersprüche gesagt.

Am 24. Juni 1930 kam Claude Chabrol als Apothekersohn in Paris zur Welt. Seinen ersten Filmclub gründete er noch als Jugendlicher in einer Garage. Er studierte Literaturwissenschaft an der Sorbonne, später Pharmazie, doch beide Studien blieben Episoden. Chabrols Liebe zum Kino fand in der von André Bazin gegründeten Zeitschrift Cahiers de Cinéma eine Plattform – dort, wo auch seine späteren Nouvelle-Vague-Kompagnons Jean-Luc Godard, Jacques Rivette oder Eric Rohmer über eine andere Filmkultur brüteten.

Chabrol fand seinen Lehrmeister in zugewanderten US-Regisseuren wie Fritz Lang oder Alfred Hitchcock – über Letzteren hat er gemeinsam mit Eric Rohmer ein Buch veröffentlicht. Eine auch politische Hinwendung: Diese neue Generation von Filmemachern will das bestimmende „Kino der Qualität“ überwinden, indem sie sich an neuen Vorbildern ausrichtet – an Hollywoodautoren, die Spannungsmuster an Grenzen heranführen und dem Zuschauer die Möglichkeit geben, selbst interpretativ aktiv zu werden.

Am Kriminalfall interessierte Chabrol nicht das who dunnit, die Tätersuche, sondern eine fast soziologische Erkundung bürgerlicher Milieus. Die Bourgeoisie, meinte er einmal in einem späten Interview, sei die einzige Klasse, die übrig geblieben sei – jene, „in die alle rein wollen. Diese eine Klasse hat allerdings mehrere Schichten.“ Schichten, die er wie ein Chirurg immer wieder aufs Neue sezierte.

War sein erster Film „Die Enttäuschten“, mit dem er 1958 Godards „Außer Atem“ um zwei Jahre zuvorkam, noch die Chronik eines jungen Mannes, der in sein ländliches Heimatdorf zurückkehrt, arbeitete er sich daraufhin immer akribischer hinter die idyllischen Fassaden des französischen Bürgertums vor. Filme wie „Die untreue Frau“ (1969), „Das Biest muss sterben“ (1969), „Der Schlachter“ (1969) bilden eine äußerst konsistente Phase in Chabrols Werk: Er untersucht, wie Eifersucht, Hass und Frustrationen den Schein erstarrter Konventionen entlarven und zu Verbrechen veranlassen, die dann auch Unschuldige mit sich reißen. Ein hintergangener Ehemann tötet seinen Nebenbuhler; ein Sexualmörder erliegt der Faszination für eine Lehrerin; in „Zwei Freundinnen“ (1968), dem ersten Film, den er mit seiner späteren Ehefrau Stéphane Audran verwirklicht, erkundet Chabrol eine fatale ménage-a-trois. Die Nähe dieser Arbeiten zueinander drückt sich auch dadurch aus, dass die weiblichen Protagonistinnen denselben Vornamen tragen, Hélène.

Im Chabrol-Universum

Die Nüchternheit von Chabrols Blick, die fast unterkühlte Distanz, mit der er seine Figuren verfolgte, war nicht frei von Empathie: Es ist der Blick eines Beobachters, der um die von äußeren Umständen hervorgerufenen Beschränktheiten des Menschen weiß. Unter den modernistischen Erneuerern der Nouvelle Vague blieb Chabrol gleichwohl der arbeitswütige Traditionalist. In den 70er-Jahren blieb er auch Fernsehauftragsarbeiten nicht abgeneigt, wurstelte sich mit Agentenfilmparodien durch: Die Kritik warf ihm schon vor, zum Routinier erstarrt zu sein. Doch Chabrol kam immer wieder zurück, ein unbeirrbarer Filmemacher, viel zu fixiert aufs Ausprobieren.

Mit Arbeiten wie dem ursprünglich von Henri-Georges Clouzot geplanten Eifersuchtsdrama „Die Hölle“ (1994) zeigte er, dass er fürs Pathologische den nötigen Aberwitz besaß, einen abgedrehten, manchmal perversen Humor, der sich in seinem Spätwerk immer deutlicher zeigte. Genres wurden immer mehr zur Nebensache: In dem Psychothriller „Biester“ (1995) rebellieren Sandrine Bonnaire und Isabelle Huppert wie zwei Jean-Genet-Heldinnen mit fast anarchistischem Furor gegen eine Obrigkeit. Schön langsam wurden die bürgerlichen Welten zu einem eigenen Universum, einem chabrolesken Spiegelkabinett.

Chabrol war bis zuletzt aktiv, am Ende sollten es mehr als 60 Kinofilme sein – „Kommissar Bellamy“ blieb sein letzter. Wie das Pariser Rathaus mitteilte, ist Claude Chabrol im Alter von 80 Jahren am Sonntag gestorben.