: Auf kontaminiertem Feld
Warum wollten wir Römer sein? Mit Hilfe kostbarer Exponate versucht die große Doppelschau in Magdeburg und Berlin zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auf diese Frage eine Antwort
VON CHRISTIAN SEMLER
Überall ist Mittelalter. Wohl den deutschen Stadtvätern, deren Kommune noch von alten Mauern umschlossen ist Dann heißt es die Stadttore schließen, einen Eintrittszoll von den Touristen erheben, und los geht’s mit den Mittelalterspielen. Diesem unschuldigen Vergnügen entspricht in keiner Weise das Verlangen, sich mit dem Staatsgebilde vertraut zu machen, in dem unsere „Ahnen“ rund 900 Jahre, darunter 600 Jahre des Mittelalters, lebten – dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
Der Reichsbegriff ist historisch kontaminiert. Dafür haben die Nazis gesorgt. Sie nahmen die mittelalterlichen Kaiser in Beschlag. Besonders diejenigen, die als „Ostkolonisatoren“ für das expansionistische Programm der Nazis propagandistisch verwertbar waren. Das „Dritte Reich“ begriff sich als Fortsetzer des alten, des ersten Reiches. Geschickt knüpfte es an die Sehnsüchte an, die in Deutschland seit dem Untergang dieses ersten Reiches wucherten.
Die Bundesrepublik vollzog einen entschiedenen Bruch mit dieser „tümelnden“ deutschen Reichsidee. Der politische Blick richtete sich auf Europa. In dieser transnationalen Orientierung, vor allem aber in der politischen Gestalt der Bundesrepublik fanden sich Züge, die ihren Ursprung im untergegangenen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hatten: der föderative Aufbau, die kompliziert verschränkten öffentlichen Gewalten, die Bedeutung der Städte, die Vielfalt der Kulturen und eben: die Orientierung an einer supranationalen Idee.
„Bitte nicht „Deutsches Reich“, rief der konservative Historiker Golo Mann aus, als es um den künftigen Namen des wiedervereinten Deutschland ging. Die Sorge vor einem neuen preußisch-deutschen Reichsnationalismus hat sich als unbegründet erwiesen. Zäh wirkt die Liebe zur angestammten Heimat fort und die nationale Idee bleibt blass. Diesen Zustand der Dinge vor Augen, haben sich die Ausstellungsmacher der Deutschen Historischen Museums zu Berlin und des Kulturhistorischen Museums zu Magdeburg vor einigen Jahren entschlossen, in einem Doppelunternehmen des 200. Todestags des Alten Reiches zu gedenken und so der historischen Neubewertung auch eine allgemeine, öffentliche Resonanz zu verschaffen.
Die beiden Ausstellungsorte kontrastieren auf geradezu absurde Weise. Magdeburg ist zentraler „Erinnerungsort“ für die ottonischen Kaiser, die im 10. Jahrhundert das ostfränkische Kaisertum begründeten. Hier, im Dom, liegt seit über 1.000 Jahren Kaiser Otto I. begraben. Die Stadt verfügt über wichtige historische Zeugnisse, etwa den „Magdeburger Reiter“, eine ideale Herrschergestalt, die jetzt im Kulturhistorischen Museum ausgestellt ist. Das Museum selbst, ein schöner, an ein Kirchenschiff gemahnender wilhelminischer Bau, spiegelt die wechselvolle Geschichte der Rezeption des Alten Reiches wider. Das riesige Fresko an der Längswand zeigt Otto I. bei der Rückkehr von einem siegreichen Feldzug gegen die „Slawen und Wenden“. Natürlich wurde zu DDR-Zeiten das Fresko übertüncht, nach der „Wende“ restauriert. Die Ausstellung über das Reich von Heinrich I. bis zu Maximilian, dem letzten Ritter, ist in der ebenfalls restaurierten Empore des Museumsschiffs untergebracht.
Berlin hingegen verfügt nicht über solche Anknüpfungspunkte. Kein Kaiser des Alten Reiches hat je diese unwirtliche Gegend besucht, obwohl doch Brandenburg eine der sieben Kurwürden innehatte. Kaiser Karl IV. wollte, in Tangermünde weilend, eigentlich in Berlin etwas Geld eintreiben, ließ aber davon ab, als er erfuhr, dass dort nichts zu holen sei. Auch lässt sich von den Hohenzollern nicht behaupten, sie hätten sich besonders reichstreu verhalten. Berlin verfügt über keine materiellen Zeugnisse, die seine Beziehung zum Reich visualisieren könnten. Die Ausstellung über die letzten Jahrhunderte des Alten Reiches von 1500 bis zur Auflösung ist, quasi ortlos, im Pei-Bau des Historischen Museums untergebracht. Eine historische Konstruktion im Niemandsland. Das muss nicht, aber kann ein Fehler sein, wenn die historische Rekonstruktion versagt.
Bringen uns die beiden Ausstellungen näher, was das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, was dieses seltsame Gebilde wirklich war und wie es über die Zeit hinweg funktionierte? Verstehen wir, warum sich der Kaiser und seine Gefolgsleute als Fortsetzer des Römischen Reiches, als „Römer“ ansahen, warum sie seit den Staufern ihr Reich als heilig bezeichneten und warum erst die Habsburger am Ausgang des Mittelalters auf die Idee kamen, noch den Zusatz „Deutscher Nation“ anzuhängen? Das Hauptproblem beider Ausstellungen besteht darin, dass aus Furcht vor Überpädagogisierung eigentlich nichts wirklich erklärt wird. Zentrale Begriffe des mittelalterlichen wie des frühneuzeitlichen Denkens bleiben unerörtert. Man muss den Abstand dieses tief religiösen, hierarchisch geprägten Denkens zur heutigen Zeit in der Ausstellung sichtbar machen, wenn man die dennoch bestehenden Kontinuitätslinien verstehen will. Dies gelingt nicht.
Die Magdeburger Ausstellung glänzt durch die Erlesenheit und Schönheit ihrer Exponate. Wie in Berlin auch sind ausschließlich Originale versammelt. Besondere Berühmtheiten, wie die Manesse-Handschrift mit ihren Abbildungen der Minnesänger, sind unter einem güldenen Baldachin ausgestellt. Zweiwöchentlich eilt ein dienstbarer Geist aus Heidelberg, dem ständigen Verwahrungsort, herbei, um eine Seite umzudrehen. Es gibt Wiedervereinigungen auf Zeit, die das Herz jedes Liebhabers höher schlagen lassen. So im Fall der getrennten Medaillons des Remaklus-Altars von Stablo. Wir finden herrliche Prunkstücke, so den Barbarossa-Kopf von Cappenberg. Aber auch Kuriosa wie ein reich verziertes überdimensioniertes Kartenspiel. Wie und ob diese Karten gehalten wurden und welches Spiel mit ihnen lief, ist allerdings weder dem Ausstellungstext noch dem – prächtigen – Katalog zu entnehmen. Auch die für die Wendepunkte der mittelalterlichen Reichsgeschichte wichtigen Urkunden sind vertreten, so die Goldene Bulle Kaiser Karls IV., die die Kaiserwahl endgültig regelte und sie von jeder religiös-papistischen Einmischung befreite. Auch sie ist durch einen Baldachin gekrönt.
Die Magdeburger haben auf die Ausstrahlung großer Kunstwerke gesetzt. Unter den Tisch fällt nach diesem Vorentscheid die gesamte Sozialgeschichte des Mittelalters, die Blüte der reichsunmittelbaren Städte, die für den Kaiser ein sicherer Rückhalt waren, von der Realität des feudal verfassten Staates, der Lage der Bauern, von religiösen und sozialen Unruhen ganz zu schweigen. Im Ganzen ein völlig idealisiertes Bild des Reiches entlang der großen Herrscherpersönlichkeiten, fast nach dem Motto „Männer machen Geschichte“.
Die Berliner Ausstellung folgt wie die Magdeburger der Chronologie, das heißt der Abfolge der (mit einer Ausnahme) habsburgischen Kaiser von Maximilian bis Franz II. Von dem kaiserlichen Rundgang zweigen Räume ab, in denen Themenbereiche systematisch abgehandelt werden. Auch hier finden sich wunderbare Kunstwerke wie die im Besitz der englischen Königin befindliche Büste Kaiser Karls V. Aber auch hier wird unter der Fülle des Erlesenen eigentlich nicht sichtbar, wie das Gebilde Heiliges Römisches Reich nun wirklich funktionierte. Großer Wert wurde mit Recht auf die Dokumente der Reichsreform von 1495 gelegt, durch die der Landfriede im Reich proklamiert und das Reichskammergericht eingeführt wurde. Hier hätte es nahegelegen, an Hand eines exemplarischen Prozesses darzustellen, wie quälend langsam, aber letztlich erfolgreich diese Reichsinstitution arbeitete. Man denke nur an einen der vielen Prozesse Köln (Freie Reichsstadt) gegen Köln (Erzbistum). Gleiches gilt für die Funktion der Reichskreise, die Schwierigkeiten mit der Reichssteuer, der Reichsmatrikel und vor allem – der Arbeitsweise des Reichstags als zentralem, ständischem Gegenüber der kaiserlichen Macht. Nicht verstehbar wird, dass schon vor Napoleons Siegeszug dieses filigrane System des Reiches in eine schwere ökonomische, soziale und schließlich politische Krise geraten war.
In der Berliner Ausstellung findet sich ein Ensemble unter dem Sammelnamen „Gelebtes Reich“. Aber auch in diesem Teilbereich ist nirgendwo eine sozialhistorische Komponente spürbar. Wir sehen das Schauspiel der Kaisereinzüge in die Städte, die Prachtentfaltung, aber über die innerstädtischen Klassenkämpfe der Neuzeit, bei denen oft genug der Kaiser angerufen wurde, kein Wort. Alles schön, aber alles bleibt stumm.
Bis 10. Dezember, Katalog, 2 Bde., Sandstein Verlag Dresden, 98 €