„Ein Leben in Widersprüchen“

FREIHEIT In einer Gesellschaft, in der man schnell als unnütz eingeordnet wird, schrumpfen die Spielräume. Der Film- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó über das Leben in Ungarn und sein Stück „Dementia“

■ Kornél Mundruczó, 1975 in Ungarn geboren, studierte an der ungarischen Universität für Film und Schauspiel. Sein erster Spielfilm, „Szép Napok“ (Schöne Tage), wurde 2002 mit einem Silbernen Leoparden in Locarno ausgezeichnet. Sein jüngster Film, „Tender Son“, lief 2010 im Rahmen des offiziellen Wettbewerbs in Cannes. Seit einigen Jahren ist er u. a. am Krétakör Theater, am Ungarischen Nationaltheater, am Thalia Theater Hamburg und am Schauspiel Hannover als Theaterregisseur tätig. Derzeit werden sechs seiner Stücke international gespielt, unter anderem „The Frankenstein Project“ in Straßburg, Wiesbaden, Nitra, Paris, Krakau, Brüssel, Wien, Ljubljana, Vilnius, Riga, Rotterdam, Karlsruhe, Belgrad, Seoul und Santarcangelo Foto: Mátyás Erdély

INTERVIEW TOM MUSTROPH

taz: Kornél Mundruczó, in Ihrer aktuellen Produktion „Dementia“ geht es um Menschen, die ihr Gedächtnis und damit auch ihre Identität verloren haben. Manchmal leiden sie daran, manchmal schätzen sie sich auch deswegen glücklich. Wie stark ist das eine Metapher für das aktuelle Ungarn?

Kornél Mundruczó: Natürlich hat es ganz viel mit Ungarn zu tun. Es ist aber auch eine Operette und ein Verwandlungsspiel. Wir spielen alte Menschen, sind aber jung. Ich mag solche Paradoxa. Die Idee ist nach einer Geschichte in meiner Familie entstanden. Eine alte Frau mit Demenzerkrankung hat ihre Kinder nicht wiedererkannt. Als sich eines der Kinder aber ans Klavier setzte und Operettenlieder spielte, die diese Frau gern gehört und gesungen hatte, kam die Erinnerung zum Teil wieder. Es ging mir darum, diesen Moment zu kreieren.

Für viele, von denen „Dementia“ erzählt, ist Selbstmord der einzige Ausweg.

Es kommt auch Selbstmord herein und die Frage nach unnützen Leuten. In unserer Gesellschaft kann man schnell als unnütz betrachtet werden, auch als freie Gruppe, das spüren wir.

„Dementia“ hat mittlerweile einige Tourneestationen hinter sich. Wie waren die Zuschauerreaktionen? Wie sehr gingen da ästhetische Debatten und solche über die politische Situation in Ungarn ineinander über?

Zu Hause hat das Stück eine sehr gute Aufnahme gefunden. Unsere Reflexionen über die Gesellschaft, die politisch doch sehr unkorrekt sind, weil wir uns nicht parteipolitisch orientieren, weder rechts noch links, hatten positive Resonanz. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dem Publikum Freiheit und Unabhängigkeit ganz wichtige Kategorien sind. Wir waren uns vorher nicht so sicher darüber.

Gab es auch kritische Einflussnahme, Versuche von Zensur?

Insgesamt sind die Bedingungen schlechter geworden. Die finanzielle Unterstützung geht zurück. Andererseits würden einige der Theatermacher, die in den festen Theaterhäusern arbeiten, gern Teil der unabhängigen Bewegung sein. Sie unterstützen uns zumindest ideell, weil es wichtig ist, dass es unabhängige Positionen in Ungarn gibt. Ohne ausländische Hilfe könnte unsere freie Gruppe, das Proton Theater aber nicht existieren. Das ist paradox und schmerzhaft für uns, weil wir eben auch der EU ziemlich kritisch gegenüberstehen. Als ich jung war, schien mir die EU ein Paradies zu sein. Das hat sich jetzt geändert.

Woher rührt diese Enttäuschung?

Wir sind die Generation „Zero“. Wir haben keine wirklich schlechte Erinnerungen an den Kommunismus mehr, da wir selbst eher wenig davon miterlebt haben. Ich war 13 bei der Transformation. Ungarn galt ja auch als die lustige Baracke des Sozialismus. Als dann die demokratischen Veränderungen kamen, habe ich zehn Jahre lang gehofft, Ungarn würde Teil von Europa werden. Das ist aber nicht passiert. Wir haben hier zwar eine Art von Demokratie, aber sie ist der gesteuerten Demokratie, wie die von Putin viel näher. Die meiste Kritik an der ungarischen Gesellschaft ist in der Substanz auch richtig. Bedauerlicherweise wird aber nur kritisiert und nichts gemacht um die Demokratie zu schützen. Auch nicht von der EU. Und die Ungarn selbst haben meiner Meinung nach in den letzten 10 Jahren die Demokratie noch nicht wirklich lernen / verinnerlichen können und können deshalb nicht mit ihrer Freiheit leben. Deshalb spurt man auch von der Freiheit immer weniger und die Distanzen zwischen Ost und West werden immer größer.

Wollen Sie denn, dass die EU sich derart ins Innere des Landes einmischt wie in der Ukraine?

Man kann es kaum glauben was dort geschieht. Es ist ein noch größeres Warnsignal als Griechenland. Sowohl für uns als auch für die EU. Wir können aber weder Griechenland noch Ungarn mit der Ukraine vergleichen, da diese zwei Laender Teil der EU sind, die Ukraine aber nicht. Der Druck von Putin ist extrem stark. Es erinnert mich an Ungarn 1956 und Prag 1968. Ich bin gespannt, wie die EU und auch die USA reagieren, was sie dort zulassen.

Es herrscht in Ungarn also Angst, wenn Nachrichten aus der Ukraine eintreffen?

Ja, absolut. Unsere Regierung gibt zwar die Parole aus, dass Ungarn keine Kolonie der EU werden soll. Aber eine Kolonie von Putins Russland will, glaube ich, niemand werden. Das dachten wahscheinlich viele als man vor kurzer Zeit erfahren hat, dass Orbán und Putin auf den Bau von zwei neuen Reaktorblöcken am ungarischen Atomkraftwerk Paks geeinigt haben.

Das Festival, in dem „Dementia“ gezeigt wird, ist mit der Option „Geht man aus Ungarn weg oder soll man bleiben?“ überschrieben. Stellen Sie sich diese Frage auch am Alltag?

Ja, definitiv. Diese Frage wird allerdings nur relevant für den, der auch die Möglichkeit dazu hat. Dann ist es allerdings eine sehr harte Entscheidung. Aber wenn man in seinem eigenen Land schon wie in einem Getto lebt, dann lebt man bereits irgendwie im Ausland. Ganz wegzugehen ist immer schwierig, weil man dann auch seine Wurzeln kappt.

■ „Leaving is not an option?“ hat das HAU sein Festival zu ungarischem Theater überschrieben, das am Sonntag beginnt. Wie Kornél Mundruczó, der vom 9. bis 11. März sein Stück „Dementia, or the Day of My Great Happiness“ zeigt, betont, ist dies für alle, die sich nicht den jeweiligen parteipolitischen Kadern zurechnen, eine auch im Alltag sehr relevante Frage.

■ Das Festival fokussiert die Frage: Wie demokratisch ist dies kleine Land mitten in Europa noch verfasst? Bei aller Kritik an den innenpolitischen Zuständen wird aber auch massive Enttäuschung über die Haltung des Rests von Europa deutlich. Bis zum 16. März sind Produktionen von Mundruczó, Péter Kárpáti, Little Warsaw, Béla Pintér und der HOPPart Company, hervorgegangen aus dem ersten Studiengang für Musik und Schauspiel an der Theateruniversität in Budapest, zu sehen.

■ Am 13. März erzählen im Dokumentarfilm „Menjek/Maradjak“ Ungarn, die ihr Land verlassen haben, und der Regisseur Béla Pintér diskutiert mit dem Theatermanager György Szabó, dem Rapper Miklós Paizs und dem Redakteur Márton Gergely (Tageszeitung Népszabadság) über die Optionen, zu gehen oder zu bleiben.

Sie bleiben also wegen Ihrer Wurzeln?

Man muss die Gegensätze verstehen. Ich kann nicht leben ohne meine Wurzeln, lebe aber hier in Budapest. Ich habe keine klare Antwort. Das ist ein Leben in permanenten Widersprüchen.

Ihnen eilt der Ruf voraus, in Ihren Theaterstücken und auch in Ihren Filmen sehr auf Gewalt als Mittel zu setzen. Manchmal scheint Gewalt gar die einzig mögliche Kommunikationsform für die Protagonisten zu sein. Warum diese Entscheidung?

Das liegt an den Geschichten. Wenn man die Wahrheit erzählen will, kann man die Gewalt nicht ignorieren. Ich stilisiere das nicht. Wenn sich jemand davon provoziert fühlt, sagt dies mehr über die Person aus als über das Stück.

Mir ist aufgefallen, dass Sie in der Theaterbranche immer als „ungarischer Regisseur“ auftauchen, also als jemand, von dem man erwartet, dass er mit seinen Arbeiten auch etwas über das Land, in dem er lebt, aussagt, während Sie in der Filmbranche vor allem als Künstler – und eben ohne den Kontext Ungarn – wahrgenommen werden. Woher kommen diese unterschiedlichen Zuordnungen?

Ich glaube, es liegt daran, dass Filme zeitlos sind. Wenn man da zu konkret ist, hat man später ein Problem. Wer weiß schon noch in 20 Jahren noch, was hier einmal los war? Aber im Theater ist dies umgekehrt. Wenn man auf der Bühne zeitlos ist, berührt dies nicht. Man muss mit dem Publikum über aktuelle Probleme kommunizieren.