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Archiv-Artikel

lidokino (2) Kein Herz für Degenerierte

Cristina Nord berichtet aus Venedig, wo Brian De Palmas Ellroy-Verfilmung „The Black Dahlia“ das Festival eröffnete

In der Nacht vor der Eröffnung regnet es in Strömen. Am Morgen weht ein kühler Wind, die Luft ist so klar, dass man jenseits der Lagune, jenseits der Raffinerien von Mestre die Berge sieht. Das Fernsehen bringt die Morgennachrichten. Die Rede ist von den italienischen Truppen, die Richtung Libanon aufbrechen, und von der Filmbiennale, die „nach der Polemik“ eröffne. „Polemik“ ist zum geflügelten Wort geworden – gemeint ist die Konkurrenz, die der diesjährigen, der 63. Filmbiennale aus einem funkelnagelneuen Festival erwächst.

Am 12. Oktober geht in Rom ein mit 12 Millionen Euro üppig budgetiertes Festival an den Start. Ein italienischer Produzent klagte gegenüber der Tageszeitung La Repubblica, die zeitliche Nähe der beiden Veranstaltungen stifte Verwirrung: Welchem der Festivals solle man seine Filme anvertrauen? Auch die Sponsoren sind hin- und hergerissen. Der Bürgermeister von Venedig, Massimo Cacciari, setzt dagegen auf die Cinephilie: „Venedig gegen Rom – das ist wie Truffaut gegen James Bond“, sagte er, und Marco Müller ließ durchscheinen, dass für die Kuratoren in Rom nichts übrigbleibe, was er hätte haben wollen. Wer sich im Gerangel durchsetzt, hat freilich wenig mit ästhetischen und inhaltlichen Fragen zu tun. Was A-Festivals im Innersten zusammenhält, ist ein funktionierender Markt wie in Cannes und in Berlin. Venedig fehlt dafür die Infrastruktur. Ob Rom sie binnen kurzer Zeit zu schaffen imstande ist, steht freilich nicht zu erwarten.

Ein wenig Polemik gab es auch um den Eröffnungsfilm. Kurz bevor die Mostra beginnen sollte, zirkulierte die Meldung, Marco Müller habe statt Brian De Palmas „The Black Dahlia“ lieber Tom Tykwers Romanverfilmung „Das Parfum“ zeigen wollen, die Münchner Produktionsfirma Constantin habe sich diesem Wunsch jedoch verweigert. Den Gästen der Gala in der Sala Grande hat diese Entscheidung eine biedere Literaturverfilmung erspart und einen geradlinig-harten Film noir beschert.

„The Black Dahlia“ beruht auf einem Kriminalroman von James Ellroy, hardboiled wie das Buch ist der Film. De Palma verwendet routiniert die bekannten Zutaten: die Stimme aus dem Off, die dem Protagonisten, dem Polizisten Bleichert (Josh Hartnett), gehört, eine Femme fatale namens Madeleine Linscott (Hilary Swank) und deren blonden Gegenpart, eine geschundene Unschuld namens Kay (Scarlett Johansson), einen Black-out des Ermittlers nach einer Schlägerei, korrupte Polizisten und viele Lügen und Geheimnisse. „The Black Dahlia“ spielt in Los Angeles in den Jahren 1946 und 1947, ein bisschen braunstichig sind dementsprechend die Ausleuchtung und die Kulisse; De Palma benutzt als Hintergrundfolie die Studios und Besetzungsbüros von Hollywood, so wie er in seinem letzten Film, „Femme Fatale“ (2002), den Rummel des Filmfestivals von Cannes zur Kulisse wählte. Bleichert arbeitet in der Mordkommission, er verfolgt den Fall einer brutal ermordeten jungen Frau, die mit dem Traum nach Los Angeles kam, in den Filmstudios Karriere zu machen. Sie brachte es nicht weit: Die Screentests, die sich Bleichert anschaut, zeigen sie auf Knien rutschend vor dem unsichtbar bleibenden Casting-Chef, und man weiß nicht recht: Ist das Teil ihrer Rolle oder Teil ihrer Arbeitssuche? Der einzige fertige Film, den Bleichert zu Gesicht bekommt, ist ein Porno, ein lesbischer zudem. Sein Kollege und Freund Blanchard (Aaron Eckhart) verkraftet diese Bilder nicht, ob aus Ekel oder Erregung, lässt De Palma offen. Bleichert bleibt cooler, erst das wiederholte Studium des Filmmaterials führt ihn zur Lösung des Falles, so dass die Grenzen zwischen dem Beruf des Detektivs und dem des Filmkritikers ineinander übergehen.

Als Bleichert zu einem Abendessen im Hause eines Tycoons eingeladen wird, sagt dieser über die Bratenscheiben auf den Tellern: „Wir essen hier herzhaftes Essen, denn herzhaftes Essen schafft herzliche Menschen. Haute Cuisine ist etwas für Degenerierte.“ Der Zuschauer weiß in diesem Augenblick noch nicht, wie sehr das in die Irre führt, und De Palma muss sich die Frage gefallen lassen, wie viel Herz er für die Degenerierten hat. Eher keines, würde ich sagen, und halte mich an Spaghetti alle vongole.

CRISTINA NORD