: Soziales grünes Gütesiegel
Wie ökologisch soll die Partei sein? Und wie sozial? Die soziale Gerechtigkeit wurde zum zentralen Thema des Kongresses
AUS BERLIN JENS KÖNIG, KATHARINA KOUFEN UND ULRIKE WINKELMANN
Wenn die Natur stirbt, nehme ich dann Eintrittsgeld für das Naturschutzgebiet, um es zu schonen? Wenn ja, wie viel? Und ist das gerecht? Sven Giegold, Mitbegründer von Attac Deutschland, bringt beim Workshop zu Öko-Kapitalismus und grüner Marktwirtschaft das Problem auf den Punkt: Eine Ökologisierung der Marktwirtschaft „birgt enorme Gerechtigkeitsprobleme“. Also müsse „die Verteilung des Reichtums relativ gleich sein, um die Naturknappheit über Geld verteilen zu können. Die ökologische Marktwirtschaft muss immer auch soziale Marktwirtschaft sein.“ Applaus.
Fast 2.000 Grüne und Grünen-Interessierte kamen am Wochenende nach Berlin, um dort auf dem „Zukunftskongress“ der Partei über große Themen zu diskutieren: Ökologie, Europa und Globalisierung, Kinder, Bildung, Integration und Soziales. Vorsorglich hatte die Parteispitze einige Leitvokabeln und Thesen in die Welt gesetzt, damit sich der Kongress in die Neuausrichtung der kleinsten Oppositionspartei einfügen lässt. Eine neue „Radikalität“ sollte gesucht werden, und zwar vor allem bei der Neuformulierung des grünen Markenkerns – der Ökologie.
Doch wollte sich die teils von weit her angereiste Basis nicht unbedingt von den Marketing- und Koalitionsoptionsbedürfnissen der Chefs in Berlin vorschreiben lassen, was nun grüne Sache zu sein habe. Dass Bundesvorstand und Bundestagsfraktion recht verzweifelt um einen seriösen Kurs kämpfen, ist das eine. Dass viele Grüne finden, nach den kläglichen Jahren als „Reformmotor“ von Gerhard Schröders verunglückter Finanz- und Sozialpolitik seien nun erst einmal Grundsatzdebatten über soziale Gerechtigkeit angesagt, ist das andere.
Die meisten Grünen waren zwar nicht gekommen, um mit den Abgeordneten abzurechnen, die Hartz IV mitgetragen haben. Aber am Beispiel der neu aufflammenden Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen war schon erkennbar, wie sich die Partei Arbeitsmarktpolitik jenseits der Repressionsmaschine Hartz IV vorstellt: grundsätzlich und sozialvisionär. Weder Fraktions- noch Parteispitze, ja nicht einmal die Linken in der Bundestagsfraktion haben Lust, sich auf das Grundeinkommen einzulassen. Erstens wird die Diskussion in der Linkspartei auch gerade geführt, und zweitens läuft sie selbst unter den grünen Sozialpolitikern unter der Rubrik „fromme Wünsche“, wie es der Abgeordnete Markus Kurth formuliert. Doch selbstbewusst drängen etwa die baden-württembergischen Grünen mit Strategiepapieren zum Grundeinkommen nach vorn – auch mit Blick auf den Parteitag im Dezember. Thomas Poreski, einer der Verfasser, Barbara Steffens, Vizefraktionschefin in Nordrhein-Westfalen, Gabi Behrens, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Frauenpolitik, und andere – sie wollen endlich wieder eine „klare grüne Trademark“ schaffen, ein Markenzeichen sozialer Güte. Deshalb geht es beim Grundeinkommen auch nicht einfach nur um Armutsbekämpfung ohne Sozialhilfe, wie es von den „neoliberalen“ Verfechtern ähnlicher Modelle behauptet wird. Hinzu kommen sehr grünen-spezifische Fragen: Was bringt ein solches Grundeinkommen den Frauen? Können wir uns damit alle endlich ohne Zwang zur Erwerbsarbeit selbst verwirklichen? Stärkt solch eine Grundsicherung die Arbeitnehmer, weil sie nicht mehr jede Arbeit zu jedem Lohn annehmen müssen?
Viele Fragen, aber wenig klare Antworten. So ließen die Diskussionsteilnehmer am Samstag auch „ganz bewusst“ offen, wie eine Grundsicherung finanziert werden sollte – die Gretchenfrage. Zwischen 500 und 900 Milliarden Euro dürfte sie kosten, haben Ökonomen ausgerechnet. Woher nehmen? Diese Realitätsverweigerung erzürnte im Workshop auch die eigenen Leute. So bemerkte eine, die aus „einer Stadt kommt, wo jedes dritte Kind in Armut lebt“: Es sei ein Witz, angesichts leerer Kassen in den Kommunen die Finanzierungsfrage der Grundsicherung außen vor zu lassen. Ob denn sieben Jahre Regierung nicht gezeigt hätten, dass es „offenbar eine Diskrepanz gibt zwischen dem, was wir wollen, und dem, was mehrheitsfähig ist“. Sie wolle nicht „neue Wolkenkuckucksheime bauen,“ rief die Frau erbost. Eine andere Teilnehmerin warf den Leuten auf dem Podium vor, ihr Vorschlag bedeute, „per Gießkannenprinzip 500 Euro zu verteilen, an die Rechtsanwaltsgattin genauso wie an den Arbeitslosen“. Dadurch würde eine enorme Summe unters Volk gebracht, ohne dass die wirklich Bedürftigen damit aus ihrer Armut herauskämen. Und: Führt das nicht zu einer Umverteilung von unten nach oben?
Das waren nur einige Fragen unter vielen. Die Debatte über soziale Gerechtigkeit wurde ansonsten auf hohem Niveau und in vielen Facetten geführt: vom Phänomen des sozialen Ausschlusses, dem die Mehrheitsgesellschaft mit bemerkenswerter Ignoranz begegnet, über die Möglichkeiten zur Hilfe für eine Unterschicht, die sich nicht bevormunden lassen will, bis hin zur Bildung als dem Schlüsselelement eines Sozialstaats, der sich nicht allein auf Geldtransfers für die Bedürftigen konzentriert. Da tauchten plötzlich Begriffe auf, die man in der Hartz-IV-Debatte von den Grünen nie gehört hat: Respekt. Ehre. Ansehen. Eine modernen Sozialpolitik dürfe den Menschen nicht auf die Rolle des Transferempfängers reduzieren und nicht auf die einer Erwerbsperson. Das Stichwort hieß soziale Bürgerrechte – auch für Arme.