piwik no script img

Archiv-Artikel

Der Verfall und die Außenseiter

Buddenbrooks, Deutschstunde, Schimmelreiter: Die NDR-Zuschauer haben die beliebtesten Bücher des Nordens gewählt. Sie gingen auf Nummer sicher, entschieden sich für klassische Vertreter der Region, derer man sich zumindest garantiert nirgends schämen muss

Von grä

Nun haben sie also abgestimmt, die NDR-ZuschauerInnen, und das beliebteste Buch des Nordens gekürt. Man könnte mit einigem Recht sagen, dass an Bücher-Bestenlisten kein eklatanter Mangel herrscht, seien sie von Zeitschriften, Radiosendern, Buchhändlern oder Fischverkäufern erstellt. Man könnte weiterhin beklagen, dass der NDR über die Zuschauerbeteiligung schweigt und so unklar bleibt, ob man das Votum zweier literarischer Gesellschaften oder das Hunderttausender vor sich hat. Und dennoch: Was sagt es uns, dass die „Buddenbrooks“ Platz eins, die „Deutschstunde“ Platz zwei und „Der Schimmelreiter“ Platz drei erklommen haben?

Es sagt uns, dass die Wahl des beliebtesten Buches ähnlichen Erwägungen folgt wie die des Bundespräsidenten: Es sollte eine vorzeigbare Figur sein, die man, ohne sich schämen zu müssen, auch ins Ausland schicken kann. Und da hat man mit Thomas Mann, Siegfried Lenz und Theodor Storm durchaus würdige Vertreter gefunden, sozusagen das Modell Heuss unter den Büchern.

Bleibt anzumerken, dass es Texte sind, die man mit einer gewissen Berechtigung trostlos nennen kann: hier der Verfall einer Familie, dort zwei Außenseiter, die dem Unrecht beziehungsweise dem dumpfen Unwissen ihrer Gesellschaft nicht entkommen. Natürlich ist ein Mangel an Frohsinn literarischer Qualität nicht abträglich, zuweilen jedoch der Lesergunst. Doch das wiegt gering gegenüber dem Bedürfnis nach einem verlässlichen Konsens, das ein Viertel der Einsender für Mann, Lenz und Storm eingenommen hat. Mag die Nachricht von der Auflösung des literarischen Kanons auch die germanistischen Seminare erreicht haben, die Norddeutschen kümmert das wenig.

Warum die „Buddenbrooks“ ganz vorne stehen? Der NDR hatte für die Sendung „Reiseleiter durch die literarische Landschaft Norddeutschlands“ gewonnen, dabei verdienstvoller Weise nicht ausschließlich auf Prominenz sondern auch auf eine gewisse Vertrautheit mit Büchern gesetzt und somit unter anderem den Publizisten Michael Jürgs eingeladen. Der fasste das Phänomen „Buddenbrooks“ zusammen als „den deutschen Bürgerroman“, „der, in dem sich alle wiederfinden können“. Das mag nicht für alle deutschen Bürger zutreffen, aber doch zumindest für jenen Bildungsbürger, der eine Büchersendung schätzt. – Nicht so sehr allerdings, dass es die Quote über 3,1 Prozent hätte hinaustreiben können.

Auf Platz vier bis zehn wurde es dann sehr heterogen und die ersten nicht-Schulbuch-Lektüren erscheinen. „Im Westen nichts Neues“ auf Platz vier mag man noch literatur-politischer Korrektheit zuschreiben. Die Moderatorin Caren Miosga fiel auf durch die unschlaue Anmerkung: „Das war das Kriegsdienstverweigerer-Buch meiner Generation … ich war nur kein Junge, insofern ist es auch egal.“ Aber immerhin würdigte sie später Ildikó von Kürthys „Mondscheintarif“ als „frauenfeindlich“.

Überhaupt, die Frauen: Von ihnen war wenig zu merken. Auf Platz neun kam Cornelia Funkes Jugendbuch „Tintenherz“ und im Übrigen Krimis oder Kürthy-/Danella-Gekrams. Bleibt anzumerken, dass mit Heinz Strunk und Sven Regener die a) heitere und b) jüngere Fraktion auf den mittleren Rängen erschien und dass Günter Grass, noch unangetastet von SS-Verwicklungen, mit seinem „Krebsgang“ einen schlappen 18. Platz erreichte. grä