Töte oder töte nicht

VERZWEIFLUNGSFUROR Zwei Köpfe streiten in einem Körper: Luk Percevals düsterer „Hamlet“ am Thalia Theater Hamburg

VON SIMONE KAEMPF

Eine Wand aus hunderten dunkler Mäntel, die an Kleiderstangen hängen, saugt den Blick in die Höhe und macht einen fast schwindlig wie der Anblick trutziger Kirchenmauern. Vorn liegt ein erlegter Hirsch auf der Bühne des Thalia Theaters in Hamburg, ein ausgestopftes Tier, tote Materie von nicht minder archaischer Symbolik. Später wird er dem Königssohn Hamlet als so etwas wie ein Thron dienen, auf dem er die Frage nach Sein oder Nichtsein, Leben oder Tod im Selbstgespräch düster beschwört.

Aufgeladene Räume entstehen immer wieder in Luk Percevals Inszenierungen. Die Installation, die Bühnenbildnerin Annette Kurz für seinen „Hamlet“ am Thalia Theater Hamburg entworfen hat, ist von Anfang an eine mächtige, todesfürchtig-materialistische Setzung, an düstere Zeiten mahnend.

Hamlet, der zerrissene Dänenprinz, verdoppelt sich in dieser Inszenierung. Erst wirkt er, gespielt von Josef Ostendorf, wie ein dickes debiles Kind mit schiefer Pappkrone und Leierstimme. Wenn ihm zur Geisterstunde sein ermordeter Vater den Racheauftrag erteilt, kriecht aus seinem grauen Strickhemd noch ein zweiter Kopf mit Krone. Dazu ein trainierter, schöner Körper, ein Gegenpol. Der junge Schauspieler Jörg Pohl ist dieser wendige, tatbereite Hamlet, der massige Josef Ostendorf bleibt der träge, alle Kräfte bindend. In verschiedenen Kombinationen verschmelzen sie zu einem Körper mit zwei Köpfen, und trennen sich wieder als Ausgeburten ihrer selbst. So naheliegend diese Idee erscheint, so überraschend kehrt die Doppelung die albtraumhafte Seite der Hamlet-Zerrissenheit hervor.

Neue Härte

Die Neubearbeitung des Shakespeare-Textes von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel trägt dazu ihren Teil bei, weil der Text direkter, die Gefühle härter umgesetzt sind. Jens Thomas erschafft mit Klavier, Gitarre und seiner Stimme eine stetig changierende musikalische Untermalung aus sanftem Stöhnen, leisem Wehklagen, immer so intensiv wie die Szenen selbst, die zwar wechseln, aber nie ihre suggestiv-düstere Grundstimmung verlieren.

Mal fängt die hohe Kleiderwand sanft zu schaukeln an, und die Bewohner Dänemarks tauchen lautlos wie Gespenster in diesem Vorhang auf. Oder es wird eine Enge suggeriert, als würde sich alles hinter Verliesmauern abspielen, in der ein inzestuös degenerierter Hofstaat regiert. Hamlets Mutter Gertrud (Gabriela Maria Schmeide) quillen anzüglich die Schenkel aus dem knappen Zirkusballerinentrikot, Barbara Nüsse spielt Staatsminister Polonius als geifernden Krüppel im Rollstuhl, Sohn Laertes ist ein Riese auf hohen Stelzen, und als Pendant zu Hamlet vereinen sich Rosencrantz und Guildenstern in der Person von Mirco Kreibich, der in pennälerhaftem Gehorsam jede Geste mit akrobatisch zuckenden Gliedern betont.

Diese Figuren ergeben kein realistisches Staatsbild, aber ein irrationales Gefüge, in dem Hamlet das Maskenspiel mit dem Wahnsinn nicht mehr kontrollieren kann und sich schon an der Aufzählung der Sein- oder-Nichtsein-Alternativen restlos erschöpft. Töte oder töte nicht, atme oder atme nicht, schweige oder schweige nicht – im finalen Monolog lässt Perceval den gedoppelten Hamlet voll Verzweiflungsfuror mit diesen Fragen ringen, und es scheint, als würde das Prinzip von Werden und Vergehen, das die Atmosphäre der Inszenierung bestimmt, jetzt noch einmal tief in sein Bewusstsein eindringen, wenn das Leben am Verglühen ist.

Perceval verfinstert die Bühnenwelt über zwei Stunden und schafft doch das Kunststück, Hamlets Affekte, seine Vatermordgedanken, seine Ohnmachtsgefühle und sein Versagen entschieden zu beleben. Als Boten treten Kinder auf, unschuldig und ohne Wissen um die Bedeutung der Nachrichten, die sie überbringen, während ihre Adressaten dem Tode nahe sind. Auch solch eine Szene fügt sich in den Abend, der nicht nur Hamlets inneres Zerwürfnis lesbar macht, sondern offen ist für die existenziellen Kräfte im Rhythmus von Leben und Vergehen. Am stärksten aber wirkt das Bild von den beiden Hamlets, deren Selbstgespräch die Möglichkeiten von Befreien und Verschanzen noch kennt, während ihre Körper im Strickhemd feist verschmolzen sind.