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Archiv-Artikel

Prä-apokalyptisches Sprachgewirr im Audimax

Der kroatische Regisseur Branko Brezovec nimmt seit Jahrzehnten das Völkergemisch auf dem Balkan in den Blick. Sein an Shakespeare orientierter „Timon von Athen“, jetzt in Hamburg und damit erstmals in Deutschland zu sehen, handelt von Eitelkeit, Enttäuschung und Hass

Von PS

Das multikulturelle Stimmengewirr hat ihn stets gereizt; zudem ist er durch den Krieg in seiner Heimat ungewollt um einigen Stoff reicher geworden: Mit dem Völkergemisch auf dem Balkan hat sich der kroatische Regisseur Branko Brezovec seit Beginn seiner Karriere befasst – und das war früh: Mit 15 hat Brezovec, dessen „Timon von Athen“ jetzt in Hamburg gastiert, sein erstes Ensemble gegründet; früh begann der 1955 in Zagreb geborene Regisseur seine an Brecht geschulten Verfremdungen, die er bis zur Dekonstruktion trieb.

„Patent-Dramaturgie“ hat er später seinen Kniff genannt, Texte gegenüberzustellen und einander kommentieren zu lassen. Dass er seine Arbeit auch politisch begreift, verwundert angesichts der Themen nicht: In Slowenien und Mazedonien hat er in den Neunzigern gearbeitet, hat den Balkan-Krieg und den Versuch seiner Bewältigung in schonungslose Inszenierungen gekleidet. Slobodan Snajders „5. Evangelium“ über ein kroatisches KZ hat Brezovec zum Beispiel 2004 in Hamburg gezeigt.

Doch bei der Durchforstung gesellschaftlicher Traumata beließ er es nicht: Den Mechanismen der Arbeit auf der Bühne galten spätere Stücke – sowie der Spannung zwischen Individuum und Gemeinschaft: Für Molières „Misanthropen“ und für Shakespeares „Timon von Athen“ diente der im fünften vorchristlichen Jahrhundert geborene Grieche: Unendlich freigiebig ist der wohlhabende Timon zunächst, so eine Meute egozentrischer Riesenbabies erzeugend, die ihm seine Gaben nicht danken. Kompromisslos kippt seine Enttäuschung über die „falschen Freunde“ allerdings bald in Hass. Er wird zum Einsiedler.

Brezovec indes betreibt in seiner Version des „Timon“ keine extensive Charakterstudie. Wichtig sind ihm vielmehr die Perspektivwechsel: Drei Ensembles – das National Theatre Bitola und das Turkish Theatre aus Mazedonien sowie das italienische Laboratorio Nove hat er in das Audimax der Hamburger Uni gesetzt. Die Ensembles präsentieren in lautstarkem Sprachgemisch drei Versionen des Stücks.

Das Publikum spielt – auf fahrbaren Bühnen platziert – das vom Gönner enttäuschte Volk. Vielsprachiges Geschrei ist ständiges Ingrediens des Stücks – ein prä-apokalyptisches Chaos, das die Untertitel verstärken. Auch Shakespeare wird Teil der Perspektiv- und Sprachverwirrung: Auf 200 Schildern werden im Laufe des Abends Textfragmente in den Bühnenhimmel getupft – ein Kunstgriff, der den Stolz zitatbesessener Bildungsbürger ein klein wenig ironisiert. PS

Premiere: heute, 19.30, Audimax der Uni Hamburg