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Archiv-Artikel

Eingänge in die Unmündigkeit

Schriften zu Zeitschriften: „Lettre“, „WestEnd“ und die „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“ zum Religious Turn

Wie sieht sie bloß aus, die angemessene Antwort auf die religiös eingefärbte, antiwestliche Kulturkritik zorniger junger Männer mutmaßlich islamischer Provenienz, die uns manchmal unfreiwilligerweise an ihren spirituellen Grenzerfahrungen teilhaben lassen wollen? Heißt man Slavoj Žižek und ist Philosoph, kann einem bei dieser Frage schon mal der Kragen platzen: „Nach der ganzen Aufregung über die ‚postsäkulare‘ Rückkehr des Religiösen, über die Grenzen der Entzauberung und die Notwendigkeit, das Heilige wiederzuentdecken, ist das, was wir heute tatsächlich benötigen, eine ordentliche Prise des guten alten Atheismus“, ereifert sich der slowenische Philosoph in der aktuellen Ausgabe von Lettre international.

Žižek, der in der Religion die Hauptursache der mörderischen Gewalt in der ganzen Welt erkennt, ist der Versicherungen leid, „die christlichen oder muslimischen oder hinduistischen Fundamentalisten missbrauchten oder pervertierten die noble spirituelle Botschaft ihres jeweiligen Glaubens“. Lieber solle man sich erst einmal diskursiv abgrenzen und auf die eigenen Werte besinnen, denn: „Die Realität an sich, in ihrer dummen Faktizität, ist nie unerträglich, sondern sie wird es erst durch die Sprache, durch ihre Symbolisierung.“

Dabei ist es ja längst keine ausgemachte Sache, dass der Atheismus für sich genommen schon eine besondere soziale Tugendhaftigkeit sicherstellen würde. So sehr fühlt man sich doch hierzulande mittlerweile einem renditeorientierten (und bestimmt auch gottlosen) Utilitarismusglauben ausgesetzt, dass einem manchmal schon bei einem früher so verpönten Begriff wie „katholischer Soziallehre“ die Augen vor Rührung feucht werden können. Dennoch sollen wir unter dem Druck der äußeren Ereignisse anscheinend erst einmal wieder mühsam unsere westliche Werte- und Gefahrengemeinschaft zusammenzimmern. Wie lautet also die kulturelle Botschaft, die man der missgünstigen Welt da draußen selbstbewusst entgegenschleudern könnte?

Der Hamburger Philosoph Herbert Schnädelbach hat sich in der neuen Nummer der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (3/2006) von Friedrich Nietzsche inspirieren lassen, der ihn in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ über den christlichen Ursprung des „unbedingt redlichen Atheismus“ aufgeklärt hat: „Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter- Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zu intellektueller Sauberkeit um jeden Preis.“

Schnädelbach zufolge habe die marxistische Kritik der Religion als eines rein illusorischen Glücks die in der christlichen Theologie bereits angelegte Dialektik verkannt, durch unbedingte Wahrheitssuche im Glauben selbst zur philosophischen Grundlage der ureuropäischen Werte von Religionskritik, Aufklärung, Toleranz und der Subjektivierung des Glaubens zu werden. Lässt man also einmal die eigene aufklärerische Wirkung von Religionskriegen und Pogromen außer Acht, kann man mit Schnädelbach schlussfolgern: „Was ‚Ausgang aus der Unmündigkeit‘ zu nennen ist, war schon im Judentum und erst recht im Christentum von vornherein als Ziel enthalten; sie sind Religionen der Freiheitsverheißung.“

In der Zeitschrift WestEnd (1/2006) beobachtet die Pariser Religionswissenschaftlerin Danièle Hervieu-Léger, dass die rationale Entzauberung der Welt und der damit einhergehende Autoritätsverfall institutionalisierter religiöser Wahrheitsmonopole das Bedürfnis nach Glauben ohnehin nicht zum Verschwinden gebracht haben: „In Gesellschaften, die die Autonomie des Individuums als Prinzip verinnerlicht haben, schafft sich der einzelne Mensch in immer größerer Unabhängigkeit genau diejenigen kleinen Glaubenssysteme, die seinen eigenen Bestrebungen und Erfahrungen entsprechen.“

So betrachtet Hervieu-Léger den theologischen Minimalismus eines rein emotionalen und personalisierten Transzendenzbezuges im Dienste der Selbstverwirklichung, der den Einzelnen doch nur auf ein seiner sozialen Befähigung entsprechendes standardisiertes Set von Symbolressourcen zurückwerfe, mit Stirnrunzeln. Das Bedürfnis nach Subjektwerdung könne nämlich „niemals wirklich durch den personalisierten Konsum standardisierter symbolischer Güter gedeckt werden“. Denn damit wachse die Gefahr, dass die soziale Beglaubigung religiöser Überzeugungen in sektiererischen Gruppen gesucht werde. Wohin führt also die Spur des gewaltbereiten religiösen Fundamentalismus? Natürlich – zurück zur Aufklärung.

JAN-HENDRIK WULF

Lettre international 73, 9,80 EuroDeutsche Zeitschrift für Philosophie 3/2006, 23,50 EuroWestEnd 1/2006, 10 Euro